Intellektuelle Barrieren in Europa, Interview mit Éric Marié

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„Sollen wir sie kopieren, ohne sie zu verstehen, oder doch lieber ein bisschen chinesisch werden?“

LHCH: Im zweiten Teil des Interviews haben wir gesehen, dass die chinesische Medizin zweifellos seit über 2.500 Jahren Teil des chinesischen Kulturkreises ist. Aber wie vermittelt man dann diese Schätze an nicht-chinesische Studenten, die zur „europäischen Welt“ gehören? Wenden wir uns also den intellektuellen Barrieren zu.

Éric Marié: Dieser Unterschied ist mehr als nur kulturell, es ist ein fundamentaler Unterschied in der Denkweise zwischen Europa und China, auch heute noch. Die Vermittlung der chinesischen Medizin durch Bildung ist eine echte intellektuelle Herausforderung.

LHCH: Wir haben bereits die chinesische ganzheitliche Vision (das Ganze vor den Teilen) im Angesicht der europäischen analytischen Leidenschaft gesehen: in Teile zu zerlegen, um sie zu studieren und erst danach zu versuchen, sie zu einem Ganzen zu synthetisieren. Auch unsere Sprache besteht aus Dualitäten … Dualitäten, mit denen die Chinesen sich seit Jahrtausenden befassen.

Éric Marié: Nehmen Sie die Unterscheidung zwischen Körper und Geist bei uns. Wie können unsere Schüler SHEN studieren, ein geistiges UND körperliches Konzept in China? Es gibt eine psychosomatische Kontinuität, die für sie offensichtlich ist. Für uns nicht mehr seit dem Philosophen Descartes im 17. Jahrhundert. Unser kognitives System ist völlig anders. Wie soll man sich die Beziehung zwischen diesen beiden unterschiedlichen Aspekten, die man in sich trägt, vorstellen? Für die Chinesen hingegen steht alles zueinander in Bezug. Alles steht in Abhängigkeit zu anderen Dingen.

LHCH: Wie kommt das in der chinesischen Medizin konkret zum Ausdruck?

Éric Marié: Yin und Yang sind Gegensätze UND untrennbar. Wir können also auf die Yin-Energie eines Körpers einwirken, um auf das Yang einzuwirken, und umgekehrt. Es wird auf ein Organ eingewirkt, das von einem anderen entfernt ist, aber in Beziehung zu ihm steht, entsprechend diesen Energien. Es gibt auch den Begriff der Leere, der intuitiv schwer zu erfassen ist, da es sich um eine Menge abstrakter Möglichkeiten handelt, die aber gleichzeitig real sind. Die Chinesen sehen auch Zahlen oft qualitativ. 3 ist nicht 1 + 2. Die 3 hat einen Wert an sich. Einen ternären Wert. Somit ist 2 nicht weniger als 3. Außer eben quantitativ … Ja, 2 Brote sind weniger als 3 Brote. Was aber, wenn 2 eine Dichotomie ist? Die 2 hat einen numerologischen Wert an sich.

LHCH: Wir haben viele Philosophen und Anthropologen, die über dieses Thema geschrieben haben.

Éric Marié: Es genügt nicht, das von außen zu verstehen! Viele Sinologen schreiben über China, verstehen es aber nicht von innen! Man muss sich in die Lage eines chinesischen Dichters oder eines chinesischen Malers versetzen, um von vornherein und von innen heraus an ihrer Denk- und Gefühlswelt zu zweifeln. Also ihr kognitives System übernehmen.

LHCH: Wie setzt man das in der Praxis mit Studierenden um?

Éric Marié: Ja, das sind die Voraussetzungen für jedes Studium der chinesischen Medizin und Kultur. Ich will keinen intellektuellen Tourismus. Kommen wir zurück auf die Idee im letzten Teil, dass in der chinesischen Welt Kalligraphie, Malerei, Poesie, Philosophie, Teekunst und chinesische Medizin miteinander kommunizieren. Während meiner Ausbildung organisiere ich regelmäßig Kalligraphie- und Malsitzungen, um zu vermitteln, dass die Handhabung des Pinsels mit derjenigen der Akupunkturnadel verwandt ist.

Eine chinesische Logik, die das gleiche in den Dingen sieht

LHCH: Eine Praxis des Körpers, sagen wir mal manuell, um über die Grenzen unseres Verstandes hinauszugehen? Durch Übung eine andere Art der Wahrnehmung der Welt erwerben?

Éric Marié: Genau.

LHCH: Wir haben noch nicht über Ihre Ausbildung in China gesprochen. Dazu kommen wir noch. Aber wie schafft man es, all dieses Wissen und die so unterschiedlichen, sich sogar ergänzenden Praktiken zu beherrschen? Ihr Job als Arzt und Lehrer muss sehr anspruchsvoll sein!

Éric Marié: Die Chinesen haben wie wir in der Renaissance eine Leidenschaft für Analogien kultiviert, eine Zeit, die man wieder studieren sollte. Wie sie tue ich immer das gleiche, aber auf unterschiedliche Weise. Wenn ich male oder Kalligraphie betreibe, habe ich manchmal umwerfende Ideen für meine Praxis der chinesischen Medizin.

LHCH: Sie haben chinesische Medizin studiert… in Asien. Ein authentischer und tiefgreifender Ansatz.

Éric Marié: Das Hochschulstudium klammere ich an dieser Stelle mal aus. Ich war schon in jungen Jahren von Akupunktur und Kampfsport fasziniert. Damals gab es nicht viele wissenschaftliche Bücher zu diesen Themen. Ich ging für ein paar Monate nach Japan. Da war ich 20 Jahre alt. Ich wurde von einem japanischen Akademiker begrüßt. Dann wollte ich zurück an die Quelle von allem: nach China. Aber wir mussten über Taiwan gehen, das war in den frühen 1980er Jahren praktischer und einfacher zu erreichen. Ich habe bei einem Meister der Kampfkünste und der chinesischen Medizin (NEI DAN) gelernt. Ich wollte diese Pflanzen vom Berg pflücken. Er war sehr vertraut mit dem „Yi Jing“ und der klassischen medizinischen Kultur. Dann habe ich Kalligraphie und Malerei studiert. Ich wiederhole: Das war für mich eine sehr stimmige Ausbildung. Sobald ich auf dem chinesischen Festland Anzeichen einer Öffnung sah, verließ ich das Land, um mein Medizinstudium in Nanchang in der Provinz Jiangxi fortzusetzen.

LHCH: Was war das Ergebnis dieser ersten Ausbildung?

Éric Marié: Man wird kein Kampfkunstmeister, indem man einfach ein großer Sportler ist, aber auch nicht, indem man einfach ein Buch liest. Wir sollten nicht leichtfertig ein „Schaufenster“ von außen kopieren. Ich habe durch mein Tun gelernt, von innen und von außen.

LHCH: Und Sie schaffen es, dieses Wissen zu vermitteln, ohne die „intellektuellen Barrieren“. Ein Beispiel?

Éric Marié: Ich hatte zum Beispiel einen Studenten, der seine Doktorarbeit in China geschrieben hatte. Heute ist er mit einer Chinesin verheiratet und hat zwei Kinder. Jetzt ist seine Karriere perfekt!