„Die Chinesen haben generell ein stärker ausgeprägtes Gemeinschaftsbewusstsein“ Xu Justin
Wie haben Europäer chinesischer Herkunft zu Beginn der Pandemie reagiert? Anders als andere Bevölkerungsgruppen? Ein junger klinischer Psychologe, der an der Universität Leuven in Belgien studiert hat, berichtet von seinen Erfahrungen, aber auch von den Unterschieden (oder auch nicht) zwischen der europäischen Mentalität und der der Chinesen in der Heimat.
Ein großartiges Treffen mit Justin Xu, einem klinischen Psychologen in Brüssel.
LHCH: Wie haben Europäer chinesischer Herkunft auf den Ausbruch der COVID-19-Pandemie in Brüssel reagiert?
Justin Xu: Ich behandle nicht nur Chinesen. Deshalb kann ich die unterschiedlichen Reaktionen meiner Patientenpopulation vergleichen, zu der auch Belgier und andere europäische Nationalitäten gehören. Die Chinesen haben beispielsweise rascher Masken gekauft. Nach den vielen Todesfällen in China, vielleicht sogar in ihrer Familie, verspürten sie auch mehr Angst. Studien von Dr. Vincent Laurent von der Katholischen Universität Leuven haben allerdings bestätigt, dass nach fünf Tagen Lockdown Teenager und Frauen am stärksten von COVID betroffen sind. In diesen Fällen habe ich in meiner Sprechstunde bei Chinesen und Europäern die gleichen Reaktionen wahrgenommen.
LHCH: Gibt es nicht eine andere Gehorsamsmentalität, wenn es um das Tragen einer Maske geht? Europäer führen manchmal ihre sakrosankte und egoistische „Freiheit“ ins Feld, sie nicht zu tragen.
Justin Xu: In China hatten wir bereits mit SARS zu tun. Auch wenn jemand im Winter eine einfache Grippe oder Erkältung hat, setzt er die Maske auf, um andere zu schützen. Dazu kommt die Luftverschmutzung in den Großstädten. Es ist aber auch wahr, dass die Chinesen traditionell ein stärker ausgeprägtes Gemeinschaftsbewusstsein hatten und haben.
LHCH: Verwenden Sie bei der Behandlung eines Chinesen oder eines Europäers die gleichen Ansätze?
Justin Xu: Bei beiden kann COVID Ängste im Zusammenhang mit vergangenen Ereignissen verstärken. Die Reaktion war panisch und unvernünftig und es wurden sehr strenge Regeln eingehalten. Auch eine Zwangsneurose kann sich auf diese Weise äußern! Jetzt sind meine Techniken (Verhalten, Sprache usw.) während einer Sitzung anders. Bei Europäern beginne ich zum Beispiel mit Atemübungen, weil sie oft überfordert und gestresst sind und viel verdrängen. Ich lasse manchmal auch ein wenig bekanntes klassisches Musikstück laufen und bitte sie, eine Geschichte zu erzählen, damit sie sich trotz ihrer Blockaden indirekt ausdrücken können. Chinesen haben ihre Gefühle im Allgemeinen besser im Griff. Es gibt allerdings das Problem, dass ein Besuch beim Psychologen eigentlich „tabu“ ist. Wenn sie diesen Schritt tun, kommen ihre Emotionen rasch zum Vorschein.
LHCH: Atemübungen: Könnte es Brücken zwischen der westlichen Psychologie und der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) geben?
Justin Xu: Die Vorstellung vom Gleichgewicht zwischen Yin und Yang und von den 5 Elementen der TCM lässt sich in der Psychologie auf das Bedürfnis nach Gleichgewicht oder „Homöostase“ übertragen. Zum Beispiel ist die Harmonie zwischen Bewusstem, Unbewusstem und Über-Ich eine Garantie für psychische Gesundheit. Es ist allerdings auch allgemein bekannt, dass wir dieses Gleichgewicht niemals auf vollkommene Weise erreichen. Vielmehr findet eine kontinuierliche Bewegung des Annäherns oder Entfernens zwischen den Grenzpunkten statt. ein Prozess.
LHCH: Und auf welchen Theorien basieren die Psychologie-Lehrpläne in China?
Justin Xu: Ich bin 1999 nach Belgien gekommen, deshalb habe ich meine gesamte Hochschulausbildung hier, auf Niederländisch, an der Universität Leuven absolviert. Ich bin zwar Chinese, setze aber die Theorien von Freud, Lacan, System- und Verhaltenspsychologie in die Praxis um. Daher bin ich mit den heutigen Studiengängen der Universitäten in China nicht sehr vertraut. Zweifellos versuchen diese Universitäten, die westliche Psychologie mit dem traditionellen chinesischen Gedankengut des Taoismus, Konfuzianismus oder sogar des Buddhismus zu verbinden, oder?
LHCH: Zum Beispiel verfasste Freud seine Theorien auf der Grundlage seiner Erfahrungen mit der österreichischen bürgerlichen Familienstruktur in Wien. Meinen Sie, dass die Struktur der chinesischen Familie in der gleichen Weise psychologisch behandelt werden kann?
Justin Xu: Das ist eine tiefgreifende Frage. Ich mache sehr viel Familientherapie mit Chinesen. Diese Familien haben einen heterogenen kulturellen Hintergrund. Häufig wurden die Eltern in China ausgebildet und verbrachten dort ihre Jugend. Ihre Kinder hingegen sind in Europa geboren. Es gibt also Generationenkonflikte, die direkt mit der Herkunftskultur zusammenhängen. Die Unterschiede sind gewaltig. Eine chinesische Mutter erzählte mir, sie habe für ihren 19-jährigen Sohn die teuerste Kleidung, das beste Smartphone, die besten materiellen Dinge gekauft. Doch dann beklagte sie sich: „Wir sind uns nicht nah. Er will immer ausgehen, seine Freunde sehen…“. Ein ältester Sohn also auf der Flucht vor der Verantwortung, die er in China haben sollte. Aber der Sohn erwidert: „Als ich klein war, hast du die ganze Zeit gearbeitet, ohne mir Aufmerksamkeit zu schenken! Und nun, da ich mein Studium beginne, soll ich mich an deine strengen Regeln halten?“ Traditionelle Eltern tun so, als würden sie die Reaktionen ihrer Kinder nicht verstehen. Dabei erraten sie den Grund sehr wohl. Sie meinen allerdings, ihre Kinder sollten trotzdem auf sie hören und sich bemühen. Familien im Umbruch.
LHCH: Und in China gibt es diese Generationskonflikte nicht?
Justin Xu: Viel weniger, weil die Traditionen und die gesellschaftliche Kontrolle stärker präsent sind. Ein älterer Sohn spürt den gesellschaftlichen Druck überall um sich herum. Hier muss ich wirklich Brücken zwischen den Generationen bauen!
LHCH: Manchmal reden wir darüber, wie schwer es Asiaten fällt, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Hier auch?
Justin Xu: Ja, weil die chinesische Community in Brüssel klein ist. Der Lärm verebbt rasch. Es gibt da eine Bescheidenheit, eine Angst davor, sich selbst zu offenbaren. Dann werde ich zum wichtigen Vertrauten. Aber hier und da werden zum Beispiel chinesische Männer zu „richtigen Männern“ erzogen. Man weint beispielsweise nicht vor den Eltern. Das schafft natürlich Repressionen, Tabus. Gefühle kommen dann in unangemessener Weise zum Ausdruck.
Vor allem geht es um das Vertrauensverhältnis zwischen den Mitgliedern der Familie. Die Eltern müssen ihrerseits ihren Kindern Geborgenheit vermitteln und nicht nur für den materiellen Komfort sorgen.
LHCH: Ist die gesellschaftliche Kontrolle in China so streng?
Justin Xu: Dies ist eine komplexe Frage zur Harmonie in der Gesellschaft. In China gibt es manchmal oberflächliche Ehen. Ein homosexuelles Paar einigt sich mit einem lesbischen Paar darauf, zwei „heterosexuelle“ Paare zu bilden, die offiziell heiraten können. Aber die Männer der beiden Paare und die Frauen dieser beiden Paare können sich dann in ihrer homosexuellen Beziehung ohne Untreue und sorglos sehen. Welcher Druck dann auf dem ältesten Sohn lastet, wenn er zum Beispiel zum Frühlingsfest eine junge Frau zum Familienessen mitbringen muss!
Auf dieser Ebene haben die Chinesen in Europa weniger Probleme. Auch wenn die Familie gerne sieht, dass ihr Vermächtnis durch den ältesten Sohn und seine Kinder getreu weitergegeben wird.
LHCH: Gibt es bei den europäischen Chinesen Identitätsprobleme? Also, dass sie sich in erster Linie als Chinesen und dann als Europäer fühlen bzw. umgekehrt? Beides?
Justin Xu: Ich bin seit 21 Jahren hier. Ich fühle mich als Belgier mit chinesischem kulturellem Hintergrund. Ich mag das „flache Land“, weil wir, wie in China“, nach einem Kompromiss suchen. Wir pflegen eine Balance zwischen unterschiedlichen heterogenen Dingen, wie z.B. Regierungen unterschiedlicher politischer Couleur. Kulturell gesehen wird ein Belgier selten jemandem direkt sagen, dass er nicht seiner Meinung ist. Da er den Konflikt scheut, wird er sagen: „Äh, ich weiß nicht!“ Das ist eigentlich ein höfliches Nein. Sehr chinesisch (lacht).
LHCH: Was ist mit Ihren chinesischen PatientInnen?
Justin Xu: Wir haben über Generationsfragen gesprochen. Dazu kommt tatsächlich noch die Frage nach der Identität. Beides ist eng miteinander verbunden. Außer wenn wir uns als „Weltbürger“ fühlen, stellen wir uns die Frage, wohin wir gehören und wem unsere Loyalität gehört. Wir sind Bäume. Für unsere Stabilität, unsere Balance brauchen wir Wurzeln.
LHCH: Auch wir Europäer haben jetzt Identitätsprobleme. Innerhalb unserer eigenen Kultur, aber auch, eingekeilt, zwischen dem Einfluss der USA und den möglichen Perspektiven in der Beziehung zu China. Warum können wir und die Chinesen nicht von einer stärkeren Einheit innerhalb des eurasischen Kontinents träumen? Von Antwerpen bis Shanghai, ein Kontinent!
Justin Xu: Eine eurasische Identität? Das hätte was, aber der Begriff Eurasien wurde leider von einer russischen Splitterpartei missbraucht. Ich spreche lieber über die Seidenstraße, die alte und die neue.