Die internationale Gemeinschaft sollte ein Interesse daran haben, dass das im Herzen Zentralasiens gelegene Afghanistan nicht länger von Krieg, Armut, Hunger und Drogenhandel heimgesucht wird, sondern endlich eine Entwicklungsperspektive bekommt, die dem geschundenen Land mit seinen rund 40 Millionen Einwohnern Stabilität, Frieden und wachsenden Wohlstand beschert.

Doch während Anrainerstaaten, wie z.B. Pakistan, und Großmächte, allen voran Russland und China, darum bemüht sind, günstige Bedingungen für eine solche Perspektive zu befördern, betreiben die USA, die EU und internationale Geldgeber wie die Weltbank auch nach dem Abzug der NATO-Truppen einen verheerenden Wirtschaftskrieg gegen das Land, einschließlich dem Entzug sämtlicher finanzieller Mittel, die selbst zur absoluten Basisversorgung der Bevölkerung unabdingbar wären.

So hat beispielsweise der Internationale Währungsfonds (IWF) 460 Millionen Dollar an Sonderziehungsrechten blockiert, die Afghanistan zustehen. Die US-Regierung hat sogar 9,5 Milliarden Dollar von der afghanischen Zentralbank eingefroren, während die Weltbank Zahlungen für Projekte eingestellt hat, in welche sie bereits seit dem Jahr 2002 investiert hatte. Die Versorgungslage ist mittlerweile derart angespannt, dass laut Angaben des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) nur fünf Prozent der afghanischen Familien jeden Tag genug zu essen haben.[1]

Keine Gehälter mehr

Am 27. September 2021 trafen sich Vertreter des Internationalen Verbandes des Roten Kreuzes in Kabul zu einer Dringlichkeitssitzung wegen der alarmierenden Lage der medizinischen Versorgung in Afghanistan und der schrecklichen menschlichen Folgen des zusammengebrochenen Gesundheitssystems. 2500 Gesundheitseinrichtungen mussten aus Mangel an finanziellen Ressourcen schließen, und 20.000 Mitarbeitern im Gesundheitssektor können derzeit keine Löhne ausgezahlt werden.[2]

In einem Bericht der Presseagentur Reuters von Anfang Oktober hieß es, dass nach einer für die größten Spendengeber an Afghanistan erstellten Einschätzung, dass Missmanagement bei der afghanischen Zentralbank vor der Übernahme Kabuls durch die Taliban die Hauptursache für die ernsten Schwierigkeiten bei der Ausgabe von Bargeld sei. Während die Vorgängerregierung von Präsident Aschraf Ghani alle drei Monate mit 249 Mio. US-Dollar Bargeld versorgt wurde, sei dieser Geldfluss nun plötzlich abgerissen und die Staatskasse einer Liquiditätskrise ausgesetzt worden.[3]

Der Generalsekretär des Norwegischen Flüchtlingsrates, Jan Egeland, forderte in einem Brief an UN-Generalsekretär Antonio Guterres und den Präsidenten der Weltbank, David R. Malpass, man solle die Geldversorgung sofort wieder herstellen, und zwar bevor der harsche afghanische Winter beispielloses Leiden über die Menschen bringt.[4] Da die Weltbank rund 70% der öffentlichen Angestellten – Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte, Ingenieure, usw. – bezahlte, bedeutet ein plötzliches Aussetzen dieser Zahlungen ein katastrophale Disruption der Versorgung. Viele hätten im Mai dieses Jahres ihr letztes Gehalt bekommen. Mittlerweile müssten die Menschen für eine Mahlzeit ihre letzte Habe verkaufen. Auch das System der öffentlichen Sicherheit in Afghanistan brach bereits lange vor den Vorstößen der Taliban zusammen. So erhielt beispielsweise die afghanische Polizei sechs Monate lang kein Gehalt.

Auch die Europäische Union beteiligt sich an der kollektiven Bestrafung der Afghanen. EU- Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen erklärte, dass „die künftige Entwicklungshilfe streng an Bedingungen geknüpft werden muss“[5], nämlich an Menschenrechte und die Rechte der Frauen. Die eine Milliarde Euro, die die EU für die nächsten sieben Jahre für Afghanistan vorgesehen hatte, wurde eingefroren, bis die Kommission den Nachweis erbracht hat, dass ihre Bedingungen erfüllt werden. Dass die Maßnahmen zu einer dramatischen Verschlechterung der Situation gerade von Frauen und Kindern führt, deren Rechte sie zu schützen vorgibt, scheint die Kommission dabei nicht zu tangieren.

USA gegen China, Russland und Taliban

Die Republikaner im US-Senat haben unter Federführung von Senator Jim Risch, dem ranghöchsten Mitglied des Senatsausschusses für auswärtige Beziehungen, einen Gesetzesentwurf eingebracht, der angeblich mehrere Probleme im Zusammenhang mit dem Abzug aus Afghanistan angehen soll.

Mit diesem „Afghanistan Counterterrorism, Oversight, and Accountability Act“ (Gesetz zur Terrorismusbekämpfung, Aufsicht und Rechenschaftspflicht in Afghanistan) wollen Risch und seine Unterstützer jedoch ein ganz anderes Ziel verfolgen, nämlich eine radikale Neubestimmung der Strategie Amerikas gegenüber Zentralasien, die nur zur weiteren Verelendung der Region beitragen kann und die Spannungen zwischen den USA einerseits und Russland und China andererseits zusätzlich vergrößern wird.

Durch Rischs Gesetz sollen „Strategien für die weitere Terrorismusbekämpfung in Afghanistan entwickelt, die Taliban für Terrorismus und Menschenrechtsverletzungen bestraft, Sanktionen gegen Personen und Länder, die die Taliban unterstützen, verhängt und die nichthumanitäre Auslandshilfe für Afghanistan eingeschränkt werden.“ [6] Das Gesetz verlangt eine „detaillierte Beschreibung der sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Herausforderungen, die die Russische Föderation, die Volksrepublik China und die Taliban für die Länder Süd- und Zentralasiens darstellen, einschließlich Grenzstreitigkeiten mit süd- und zentralasiatischen Ländern, die an die Volksrepublik China angrenzen, Investitionen der Regierung der Volksrepublik China in Land- und Seehäfen, militärische Aktivitäten und Anlagen, Verkehrsinfrastruktur und Energieprojekte in der gesamten Region.“ Damit will man offensichtlichen die Möglichkeiten der Ausweitung der chinesischen Belt And Road Initiative, also der Neuen Seidenstraße, nach Afghanistan ausbremsen.

Gleichzeitig würde das Gesetz die Präsenz des US-Militärs in Zentralasien erneut festigen, indem es eine „Analyse der Möglichkeiten für den Zugang der Streitkräfte der Vereinigten Staaten zu den zentralasiatischen Ländern und für deren Stationierung sowie für den Überflug dieser Länder durch US-Drohnen“ verlangt. Durch solche und andere Maßnahmen will der US-Senat die Rolle Chinas und Russlands beim Aufbau der afghanischen Wirtschaft, vor allem im Rohstoffsektor, und bei den Handelsbeziehungen zurückdrängen. Das ganze Gesetz ist letztlich eine geopolitische Falle, durch welche die USA die Sicherheit und die Stabilität in Zentralasien erneut bedrohen, anstatt sich an gemeinsamen Maßnahmen zur Linderung der ungeheuren humanitären Katastrophe zu beteiligen.

Neue Seidenstraße

Im Gegensatz dazu haben Afghanistans Anrainerstaaten klargestellt, dass nur eine Perspektive des ökonomischen Aufbaus und die Einbindung Afghanistans in das Infrastrukturnetz der Region den Weg zu mehr Sicherheit und Stabilität ebnen würde. So führte der usbekische Außenminister Abdulaziz Kamilov Anfang Oktober eine Delegation in die afghanische Hauptstadt Kabul, um sich mit Premierminister Abdul Salam Hanafi und seinen Ministern der Ressorts Verkehr, Energie und Arbeit zu treffen.[7] Kurzfristig ging es dabei um die Versorgung mit Nahrungsmitteln und grundlegenden Gütern für die afghanische Bevölkerung. Darüber hinaus sprach man aber auch über den Bau von Stromtrassen, Eisenbahnstrecken und den Güterverkehrsanschluss nach Pakistan, der zum Hafen von Gwadar am Arabischen Meer führt.

Chinesische Politiker und Diplomaten erklärten wiederholt, dass die Zukunft Afghanistans in den Händen des afghanischen Volkes liege, und dass China die Unabhängigkeit und Souveränität Afghanistans respektiere. China hat bereits mehrfach eine Entwicklungspartnerschaft im Rahmen seines internationalen Vorzeigeprogramms, der Belt and Road Initiative (BRI), angeboten. Hanafi äußerte sich dazu folgendermaßen: „Die von China befürwortete Zusammenarbeit im Rahmen der BRI ist für die Entwicklung und den Wohlstand Afghanistans und der Region förderlich, und Afghanistan möchte den Aufbau der Neuen Seidenstraße weiterhin ernsthaft unterstützen und daran mitwirken“.[8]

Gegenüber der italienischen Zeitung La Repubblica erklärte Taliban-Regierungssprecher Zabihullah Mudschahid, Afghanistan erwarte, dass China eine Schlüsselrolle bei der Wiederbelebung der afghanischen Wirtschaft spielen werde. „China ist unser wichtigster Partner und stellt für uns eine grundlegende und außergewöhnliche Chance dar, weil es bereit ist, in unser Land zu investieren und es wieder aufzubauen. Wir schätzen das Projekt „Neue Seidenstraße“, das dazu dienen wird, die alte Seidenstraße wiederzubeleben, sehr. Darüber hinaus verfügen wir über reiche Kupferminen, die dank der Chinesen wieder in Produktion gebracht und modernisiert werden können. China ist unser Pass zu den Märkten der ganzen Welt.“[9]

Späte Einsicht?

Als der deutsche Außenminister Heiko Maas in Islamabad war und eine Pressekonferenz mit dem pakistanischen Außenminister Qureshi gab, sagte Qureshi: „Warum schaffen wir nicht innerhalb Afghanistans ein Umfeld, in dem es keine Gründe gibt zu fliehen?“ Qureshi sprach das offensichtlich vernünftigste aus, doch solche Stimmen der Vernunft sind in den USA und in Europa noch Mangelware. Maas, dessen Außenpolitik insgesamt sicherlich unzureichend war, hatte keine andere Wahl, als auf der Pressekonferenz einzugestehen: „Für Dinge wie Terrorismusbekämpfung, Friedensschaffung und Beendigung von Menschenrechtsverletzungen sind militärische Interventionen oder der Export einer Staatsform nicht geeignet und nicht nachhaltig.“

Es bleibt die Frage, ob der Westen den Schock über seine Niederlage in eine neue konstruktive politische Orientierung umwandeln kann, indem er mit Russland, China und vielen anderen zusammenarbeitet, um Dämonisierung und Machtkonkurrenz zu ersetzen; indem er faire Entwicklungskredite gewährt, anstatt Sanktionen zu verhängen; indem er von einem Standpunkt der Gleichheit und nicht der kulturellen Überlegenheit spricht. Das Ausmaß des Afghanistan-Debakels muss den Westen dazu bringen, in neuen historischen Dimensionen zu denken, und erfordert tiefgreifende Überlegungen und grundlegende Veränderungen in der Struktur der westlichen Gesellschaft.


[1] https://www.wfp.org/stories/grip-hunger-only-5-percent-afghan-families-have-enough-eat

[2] https://www.icrc.org/en/document/joint-statement-un-resident-and-humanitarian-coordinator-and-heads-icrc-ocha-unicef-and-who

[3] https://www.reuters.com/world/asia-pacific/exclusive-afghan-central-bank-drained-dollar-stockpile-before-kabul-fell-2021-09-29/

[4] https://menafn.com/1102904004/Resumption-of-large-scale-humanitarian-aid-for-Afghans-urged

[5] https://ec.europa.eu/germany/news/20210823-afghanistan-sichere-wege-fuer-schutzbeduerftige_de

[6] https://www.risch.senate.gov/public/index.cfm/articles?ID=8FF5326E-8557-402A-A7C7-EEC0D6C6C43A

[7] https://uzdaily.com/en/post/68598

[8] http://www.chinadaily.com.cn/a/202109/03/WS61316d0da310efa1bd66d07b.html

[9] https://timesofindia.indiatimes.com/world/south-asia/china-is-our-main-partner-we-care-very-much-about-silk-road-taliban/articleshow/85892269.cms