Das klimapolitische Dilemma Deutschlands: grüne Wünsche, graue Praxis

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Ein halbes Jahr ist es her, dass die Bundestagswahl entschieden wurde, und während des Wahlkampfs bezeichneten viele Medien die Wahl als Klimawahl. Zum ersten Mal taucht das Wort „Klima“ (198 Mal) im neuen Koalitionsvertrag häufiger auf als „Deutschland“ (144 Mal).

Der „Klimaabschnitt“ des Vertrags, der größtenteils von den Grünen verfasst wurde, umfasst 40 Seiten (der Vertrag ist 178 Seiten lang). Zu den ehrgeizigsten Bestimmungen gehören die folgenden: der Plan zum Ausstieg aus der Kohleverstromung wird auf 2030 vorgezogen, und im selben Jahr wird der Anteil der erneuerbaren Energien an der Gesamtstromversorgung auf 80 % erhöht; um dieses Ziel zu erreichen, wird die Photovoltaik bis 2030 auf 200 Gigawatt und die Offshore-Windenergie bis 2025 auf 70 Gigawatt ausgebaut, und in jedem Bundesland müssen 2 % der Flächen für Onshore-Windkraftanlagen genutzt werden; Ab Januar 2023 wird die Steuer auf Zertifikate für erneuerbare Energien abgeschafft und die Kohlenstoffemissionen werden künftig ausschließlich durch einen CO2-Preis reguliert; der CO2-Preis wird innerhalb einer moderaten Spanne erhöht, darf aber 60 €/t nicht überschreiten, und es wird die Einführung eines EU-weiten CO2-Mindestpreises im EU-Emissionshandelssystem unterstützt.

Angesichts des russisch-ukrainischen Konflikts stehen sowohl die Grünen als auch dieser ehrgeizige klimapolitische Vorschlag vor Herausforderungen. Wegen der großen Abhängigkeit von Russland bei den traditionellen Energieträgern – 55 % des deutschen Erdgases, 50 % der Kohle und 35 % der Öleinfuhren kommen aus Russland – wird Deutschland nicht nur mit steigenden Energiepreisen, sondern sogar mit Energieknappheit konfrontiert sein.

Das „grüne“ Klima und die „graue“ Nachhaltigkeit

In Deutschland wird seit langem eine Debatte über den Widerspruch zwischen Klimaschutz und nachhaltiger Entwicklung geführt, die sich auf das Spannungsverhältnis zwischen erneuerbaren Energien und ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Nachhaltigkeit konzentriert.

Windkraftanlagen sind eins der Konfliktthemen. Um das Ziel der Klimaneutralität zu erreichen, müssten in Deutschland in Zukunft mehr als 100.000 Windkraftanlagen installiert werden, also mehr als dreimal so viele wie heute, wenn man davon ausgeht, dass der Gesamtenergieverbrauch unverändert bleibt. Aufgrund der relativ geringen natürlichen Windkraft in Süddeutschland bleibt der Ausbau der Windenergie in den Bundesländern weit hinter dem von den Grünen angestrebten Ziel zurück. Um das Ziel zu erreichen, will der bayerische Ministerpräsident Markus Söder Windkraftanlagen in Urwäldern errichten, wo es keine Abstandsvorschriften zu Wohngebieten gibt.

Ein solch massiver Ausbau der Windenergie ist nur dann sinnvoll, wenn der Nutzen für die Vermeidung der globalen Erwärmung die damit verbundenen Umweltschäden überwiegt. Ein solcher Kompromiss lässt sich jedoch nicht mit dem EU-Rahmen für Kohlenstoffemissionen rechtfertigen, da das EU-Recht die Gesamtmenge der jährlich in der EU zulässigen Kohlenstoffemissionen festlegt. Die CO2-Emissionsziele, die deutsche Stromerzeuger durch die Nutzung erneuerbarer Energiequellen einsparen, fließen in den EU-CO2-Handelsmarkt ein, und Kohlekraftwerke in anderen Ländern können diese CO2-Emissionszertifikate dann kaufen. Und auch wenn die CO2-Emissionen in Deutschland dann zurückgehen, bleibt die Gesamtmenge der Emissionen in der EU unverändert. Der Ausbau der Windenergie in Deutschland bringt also keine Vorteile im Hinblick auf die Vermeidung der globalen Erwärmung, sondern schadet der natürlichen Umwelt in Deutschland.

Seit 2011 hat Deutschland eine beispiellose Energiewende eingeleitet – der Ausstieg aus der Atom- und Kohlekraft und die Schließung der Energielücke durch Solar- und Windenergie. 2011 deckten Kernenergie und Kohlekraft fast zwei Drittel des Strombedarfs in Deutschland. Bis 2021 war der Anteil der Kernenergie auf etwa 13 % gesunken. Nach Angaben des Weltklimarats (IPCC) ist die Erzeugung von Atomstrom in Bezug auf die CO2-Emissionen mit der Windenergie vergleichbar, 2,5 mal niedriger als bei der Solarenergie, 40 mal niedriger als bei Erdgas und 70 mal niedriger als bei der Kohlekraft.

Schätzungen zufolge wird Deutschland bis 2050 3,4 Billionen Euro in den Ausbau von Wind- und Solaranlagen investieren. Der Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung in Deutschland hat jedoch bisher nicht das erwartete Ziel erreicht. Bei der Windkraft und der Fotovoltaik gab es 2021 einen Rückgang von 14,5 % bzw. 5 % gegenüber 2020, während die Steinkohle um 30 % und die Braunkohle um 20 % zugenommen haben. Und obwohl Wind- und Sonnenenergie 45 % der Stromversorgung ausmachen, beträgt der Anteil der grünen Energie an der gesamten Energieversorgung in Deutschland nur 6,6 %.

Obwohl Deutschland die größten Investitionen in die Energiewende in Europa getätigt hat, produziert es dennoch mehr CO2-Emissionen pro kWh Strom als der EU-Durchschnitt und weit mehr als Frankreich, ein atomfreundliches Land. In Frankreich deckt die Kernenergie 70 % des Strombedarfs des Landes. Außerdem bleiben die deutschen Strompreise für Privathaushalte, nachdem sie 2018 Dänemark überholt haben, an der Spitze der europäischen Liste: Die deutschen Strompreise für Privathaushalte liegen 45 % über dem EU-Durchschnitt. Sie sind doppelt so hoch wie in Polen und dreimal so hoch wie in den Niederlanden.

Die Ineffizienz und die hohen Kosten der Energiewende in Deutschland spiegeln sich nicht nur in hohen Strompreisen, sondern auch in hohen Emissionsminderungskosten wider. Nach Angaben des CO2 Abgabe e.V. liegen die Kosten für die CO2-Vermeidung bei der Onshore-Windenergie bei etwa 1.900 €/t und bei der Photovoltaik bei 1.874 €/t. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) kommt in seinem Gutachten 2019 zu dem Ergebnis, dass die deutsche Klima- und Energiepolitik zu ineffizient ist und wenig oder gar nicht zu den angestrebten CO2-Einsparungen beiträgt.

Der „grüne“ Moralismus und die „grauen“ Konsequenzen

Viele Journalisten fühlen sich aus Gründen des Klimaschutzes verpflichtet, in erster Linie über die Risiken des Klimawandels zu berichten. Sie neigen dazu, die Unsicherheiten der vorhandenen Forschungsergebnisse zu verschweigen. Wenn die Katastrophe so eintritt, wie sie es erwarten, werden sie die Lorbeeren für ihre Vorhersagen einheimsen. Wenn ihre Vorhersagen nicht eintreffen und die Katastrophe nicht eintritt, können sie immer noch behaupten, dass die Menschen aufgrund ihrer Warnungen ihr Verhalten geändert haben.

Fossile Brennstoffe und Unternehmen für fossile Brennstoffe sind die moralischen Sündenböcke in diesem Narrativ. Fossile Brennstoffe waren der Motor des menschlichen Fortschritts, da sie billige, zuverlässige und sichere Energie liefern. Sie haben die Menschen von schwerer Arbeit befreit, die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen verdreifacht und ein Land nach dem anderen aus tragischer Armut befreit. Die Länder der Dritten Welt haben massenhaft Kohlekraftwerke gebaut, nicht um mehr Treibhausgase in die Atmosphäre zu emittieren, sondern um ihre Volkswirtschaft mit zuverlässiger und billiger Energie zu versorgen und damit hunderte Millionen von Menschen aus der Armut zu holen.

Im Zusammenhang mit dem Klimawandel gelten die Nutzung von Elektroautos, Vegetarismus und das Anbringen von Sonnenkollektoren auf Dächern als ethisches Verhalten. Der Staat hat einige Maßnahmen ergriffen, wie z. B. massive Subventionen für Elektroautos und die Abschaffung von Fahrzeugen mit konventioneller Energie, vorgeschlagene Sondersteuern auf Fleisch und stark subventionierte Photovoltaikanlagen und sogar Solarpaneele auf allen Gebäuden, die bald für Bauherren obligatorisch sein werden. „Unmoralisches“ Verhalten wird weiterhin grundsätzlich erlaubt sein. Die Menschen können weiterhin große Autos fahren, Erdgas- oder Kohlekraftwerke zur Stromerzeugung nutzen und ihre Häuser mit Öl heizen. Diese „sündigen“ Aktivitäten werden nicht verboten, sie werden nur teurer werden.

Natürlich birgt der Klimawandel mehr Risiken für unsere künftige Welt, aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Menschen dank der rasanten Fortschritte in Wissenschaft und Technik über die Mittel und Fähigkeiten verfügen, mit den Risiken umzugehen. Die Klimaaktivisten übertreiben die Bedrohung der Menschheit durch die Natur und setzen die Fähigkeit der Menschheit, auf die Krise zu reagieren, herab. Und schließlich: Müssen wir die Frage, ob wir uns an den Klimawandel anpassen oder ihn um jeden Preis bekämpfen sollen, neu überdenken? Das heißt, sollen wir CO2-neutral sein oder koexistieren?

(Quelle: Unsere Welt in Daten, Statista)