Ein neuer Ausgangspunkt: BRICS wollen auf Augenhöhe mit dem Westen

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Der 15. BRICS-Gipfel in Johannesburg stellt einen Wendepunkt in der modernen Geschichte dar. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika haben eine Plattform für die Interessen der nicht privilegierten Länder geschaffen, die auch im transatlantischen Raum nicht mehr ignoriert werden kann. Vor allem die Staaten der südlichen Hemisphäre in Afrika, Asien und Lateinamerika, die zunächst jahrhundertelang unter verschiedenen Formen der Kolonialherrschaft europäischer Eroberer zu leiden hatten und in den letzten drei Jahrzehnten die Folgen des angloamerikanischen Strebens nach einer unipolaren Weltordnung besonders zu spüren bekamen, können nun in einem Forum mit realem Gewicht ihre eigenen souveränen Interessen formulieren und in tatsächlich funktionierende Institutionen und Programme gießen. Die Konsequenzen sind von historischer Tragweite.

Die Bestrebungen der Entwicklungsländer, die auf dem gemeinsamen Kongress von Bandung (Indonesien) 1955 ihren Anfang nahmen und sich mit der Bewegung der Blockfreien Staaten Gehör zu verschaffen suchten, sind damals erfolglos geblieben oder wurden untergraben. Mit den BRICS wurde dieser Prozess nun nicht nur neu belebt, sondern auch vertieft und gestärkt. Heute repräsentieren die BRICS-Länder zusammen mehr als drei Milliarden Menschen mit einem wachsenden Anteil an Handel, Kaufkraft und Produktivität in der Welt. Dennoch: Die BRICS-Staaten wollen die bestehenden Institutionen nicht stürzen. Vielmehr sollen sie angesichts der veränderten Rahmenbedingungen demokratischer und repräsentativer gestaltet werden.

Dies schlug sich insbesondere in der am Mittwoch verabschiedeten Johannesburg-II-Erklärung nieder: „Wir fordern eine stärkere Vertretung der Schwellen- und Entwicklungsländer in internationalen Organisationen und multilateralen Gremien, in denen sie eine wichtige Rolle spielen.“ So will man „eine umfassende Reform der Vereinten Nationen, einschließlich ihres Sicherheitsrates, […] damit dieser angemessen auf die aktuellen globalen Herausforderungen reagieren und die legitimen Bestrebungen der Schwellen- und Entwicklungsländer aus Afrika, Asien und Lateinamerika, einschließlich Brasiliens, Indiens und Südafrikas, unterstützen kann, eine größere Rolle in internationalen Angelegenheiten zu spielen.“ Auch die Rolle der Welthandelsorganisation (WTO) wird nicht in Frage gestellt, sondern es wird eine „besondere und differenzierte Behandlung der Entwicklungsländer, einschließlich der am wenigsten entwickelten Länder“ eingefordert. Die von westlichen Medien oftmals geschürten Befürchtungen, die BRICS wollten eine anti-westliche Allianz schmieden, sind unbegründet.

Die Anziehungskraft der BRICS hat einen enormen Schub erfahren. Die Gerüchteküche brodelte mit Meldungen über die Zahl der Länder, die ihre Mitgliedschaft beantragt oder ihre Zugehörigkeit erklärt haben. Zuletzt schossen die Zahlen auf bis zu 50 in die Höhe. Der Vorsitzende des Gipfels, Südafrikas Präsident Cyril Ramaphosa, gab nun bekannt, dass sechs weitere Länder ab dem 1. Januar 2024 zu den BRICS gehören werden: Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate. Damit zahlt sich aus, was China bereits mit dem 9. BRICS-Gipfel 2017 in Xiamen angestoßen hat, als es Ägypten, Guinea, Mexiko, Tadschikistan und Thailand einlud und damit den BRICS+-Prozess einleitete. Mit Iran und Saudi-Arabien treten zwei für den Energierohstoffsektor wichtige Länder bei, deren Rivalität erst kürzlich durch eine diplomatische Initiative Chinas beendet wurde. Zur Erweiterung der BRICS betonte Chinas Staatspräsident Xi Jinping, dies sei ein historisches Ereignis und verkörpere die Entschlossenheit der solidarischen Kooperation der BRICS-Staaten mit Entwicklungsländern. Diese Erweiterung sei auch ein neuer Ausgangspunkt der BRICS-Zusammenarbeit und werde diesem Kooperationsmechanismus neue Impulse verleihen. Damit könnten die Kräfte für Frieden und Entwicklung der Welt kontinuierlich verstärkt werden.

Der Beitritt Argentiniens ist besonders erfreulich, da der argentinische Präsident Alberto Fernández wegen der großen wirtschaftlichen Probleme, die ihm sein Vorgänger Macri durch die Aufnahme unbezahlbarer Kredite beim Internationalen Währungsfonds (IWF) hinterlassen hat, nicht anreisen konnte. Hier zeigt sich ein besonderes Dilemma, aus dem die Staaten des sogenannten globalen Südens endlich herauskommen wollen, nämlich die mit harten Auflagen verbundenen „Hilfskredite“ des von westlichen Großbanken dominierten IWF, die jede langfristig stabile Entwicklungsperspektive der armen Länder unmöglich machen.

Folgerichtig reiste Lula gemeinsam mit der ehemaligen brasilianischen Präsidentin Dilma Rousseff an, die kürzlich in China zur Vorsitzenden der Neuen Entwicklungsbank (NDB) ernannt wurde. Die NDB, die auf dem 6. BRICS-Gipfel 2014 in Fortaleza, Brasilien, gemeinsam mit dem Reservefonds CRA ins Leben gerufen wurde, spielt nun eine entscheidende Rolle dabei, ob die BRICS+-Länder ihre ehrgeizigen gemeinsamen Entwicklungsziele erreichen können. In Interviews im Vorfeld und am Rande des Gipfels erklärte Rousseff, dass die NDB in diesem Jahr Kredite in Höhe von 8 bis 10 Milliarden US-Dollar vergeben werde, mit dem Ziel, rund 30 Prozent der Kredite in lokaler Währung zu vergeben. Entscheidend ist, dass die NDB keine IWF-ähnlichen Eingriffe in die nationale Wirtschaftspolitik vornehmen wird. Die NDB ist also keine neoliberale Finanzmarktinstitution, sondern eine klassische Entwicklungsbank, wie sie von den Schwellen- und Entwicklungsländern immer gefordert wurde. Auch die Weltbank ist dieser Rolle nie gerecht geworden. Sie ist bis heute eine von den USA, Japan und Europa dominierte Institution ohne zentrale Bedeutung für den globalen Süden.

Alle am BRICS-Prozess beteiligten Länder eint der Wille zur industriellen Modernisierung, zur Entwicklung von Transport- und Logistikverbindungen und zur technologischen Zusammenarbeit. Es ist nochmals zu betonen, dass das Phänomen BRICS nicht als Konfrontation mit dem Westen interpretiert werden darf. Dennoch weiß man natürlich, was man sich vom Westen nicht mehr gefallen lassen will. So betonte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping, dass man sich gemeinsam gegen das vom Westen propagierte Decoupling, also das Durchtrennen wichtiger Lieferketten im Technologiesektor, stelle, eine Politik, die von den USA im Rahmen ihrer erklärten Rivalität mit China praktiziert wird. Der russische Präsident Putin betonte, dass die unverantwortliche Geldvermehrung der westlichen Zentralbanken zu Inflation und Volatilität auf den Rohstoffmärkten führe, mit schwerwiegenden Folgen für den Nahrungsmittel- und Agrarsektor. Er prangerte auch das illegale Einfrieren von Devisen und die Sanktionen gegen souveräne Staaten an.

Putin warb für die Nördliche Meeresroute und den Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor, zwei gigantische Infrastrukturkorridore, die Industrien, Märkte und Knotenpunkte für Energie- und Agrarprodukte verbinden sollen, als Vorzeigeentwicklungsprojekte, auf die sich die BRICS konzentrieren könnten. Xi Jinping rief zu einer verstärkten Zusammenarbeit in den Bereichen digitale Wirtschaft, Bildung und Investitionen auf. Er schlug außerdem vor, eine gemeinsame Arbeitsgruppe für künstliche Intelligenz einzurichten. Darüber hinaus versprach er, ein gemeinsames Zentrum für Fernerkundungssatelliten sowie einen Innovations- und Wissenschaftspark zu errichten. Der indische Premierminister Modi schlug unter dem Eindruck der erfolgreichen indischen Mondmission, die parallel zum BRICS-Gipfel stattfand, die Gründung eines BRICS-Weltraumexplorationskonsortiums vor, um die Gesellschaften der Länder zukunftsfähig zu machen.

Dies sind nur einige der Elemente, die sehr deutlich zeigen, dass die BRICS-Staaten weder die Absicht haben, die Rolle der westlichen G7-Staaten zu übernehmen, noch eine antiwestliche Agenda verfolgen. Es ist teilweise absurd, wie die westliche Presse die BRICS-Staaten als „Möchtegern-Herausforderer“ bezeichnet, falsche Berichte über Uneinigkeit und Spannungen verbreitet und andere Verleumdungen ausspricht. Wer die Ergebnisse dieses Gipfels und die damit verbundenen Zukunftsaussichten unvoreingenommen betrachtet, kann nur zu dem Schluss kommen, dass die Entwicklungs- und Schwellenländer lediglich eine Plattform schaffen wollen, um eine seit Jahrhunderten bestehende Ungerechtigkeit zu beseitigen.

Auch die Schaffung einer gemeinsamen BRICS-Verrechnungseinheit, die sich am Rohstoffverbrauch und der Produktivität orientiert, ist ein nachvollziehbarer Schritt, der die wirtschaftlichen Aktivitäten vereinfachen wird. Nicht die “Ablösung des Dollars” steht bevor, sondern eine neue Verankerung der nationalen Währungen, denen die Volatilität des Dollars, z.B. durch spekulative Attacken und unvorhersehbare Wechselkursschwankungen, schon immer absurd erschien.

Jedes Land hat das Recht, seine Entwicklungs- und Sicherheitsinteressen im Rahmen der von der UNO garantierten internationalen Verträge geltend zu machen, ohne dem Westen gleich auf die Füße zu treten. Der Westen muss sich daran gewöhnen, dass es eine Völkergemeinschaft gibt, die nicht immer mit den Zielen und Werten Europas und der USA übereinstimmt. Dieses Phänomen darf und kann nach dem BRICS+-Gipfel in Johannesburg nicht mehr ignoriert werden. Der Westen täte gut daran, mit den BRICS eine strategische Kooperation und Synergien zu suchen. Das wäre auch für ihn, der über Jahrhunderte erfolgsverwöhnt war, ein Gewinn.

(Quelle: http://german.chinatoday.com.cn/ch/politik/202308/t20230825_800340489.html)