3 Körbe: 3 Hauptkandidaten, 2 Außenseiter und 3 mögliche Überraschungen

Der Autor: Frank Schwalba-Hoth (geboren am 12. Dezember 1952 in Hamburg) ist ein ehemaliger Politiker, Gründungsmitglied der deutschen Grünen und ehemaliger Europaabgeordneter. Nach dem Abitur (Otto-Hahn-Gymnasium in Geesthacht) und dem Wehrdienst studierte Frank Schwalba-Hoth von 1974 bis 1981 an der Universität Marburg. 

Mit all seiner Erfahrung und Sachkenntnis erweist uns dieser in Brüssel lebende deutsche Schlüsselakteur die Ehre, mit uns über die wesentlichen Fragen für die Zukunft Europas zu sprechen.

Angela Merkel – Abschied

Sie war (und ist) ein Geschenk, ein gutes Geschenk für Deutschland, Europa (und sogar für die Welt). Ein solches Urteil klingt aus meinem Mund vielleicht erstaunlich, schließlich war ich Mitbegründer der deutschen Grünen. Sie ist nicht in derselben Partei wie ich – aber das spielt keine Rolle. Sie ist wie eine Kerze, die Licht spendet und leise abbrennt – dabei war sie in den 15 Jahren ihrer Kanzlerschaft gar nicht in einem ruhigen Raum, sondern es herrschte meist stürmisches Wetter um sie (und uns) herum. In dieser Zeit, in der die führenden Politiker anderer Schlüsselländer sich durch Glanz und Glitzer verleiten ließen, entweder mit populistischen Botschaften oder durch erratische oder sogar autoritäre Politik aufzufallen, vermittelte sie die gegensätzliche Botschaft. Sie war immer intellektuell präsent, fast immer auf der Grundlage nicht verhandelbarer Werte und der Entschlossenheit, als verantwortungsbewusste europäische und – manchmal – sogar globale Führungspersönlichkeit mit globaler Orientierung zu handeln. Als die Lage einmal unerträglich wurde (eine Million Flüchtlinge waren auf dem Balkan mitten im Nirgendwo gestrandet), ordnete sie die Öffnung der Grenzen an und forderte ihr Land mit seinen 83 Millionen Einwohnern auf, mit Einfühlungsvermögen zu handeln (dabei war ihr bewusst, dass ein wichtiger Teil ihrer eigenen Mitte-Rechts-Partei ihr nicht folgen konnte). Diese Frau mit zum Teil polnischen Vorfahren, Tochter eines lutherischen Geistlichen und promoviert in Quantenchemie, wird sicherlich in die Geschichte eingehen.

Drei Körbe: drei Hauptkandidaten, zwei Außenseiter und zwei mögliche Überraschungen

Irgendjemand muss ihre Nachfolge antreten. Zwei zeitlich voneinander getrennte Schritte werden die sieben Kandidaten auf zwei und schließlich auf einen reduzieren. Es gibt da drei „Körbe“. 

Im ersten Korb finden wir drei männliche Christdemokraten vor, geboren zwischen 1955 und 1961, alle aus dem Norden von Nordrhein-Westfalen, dem größten deutschen Bundesland an der Grenze zu den Niederlanden und Belgien. Sie alle verfügen über eine profunde politische Erfahrung, alle mit internationalen Verdiensten. Armin Laschet und Friedrich Merz waren Mitglieder des Europaparlaments, Norbert Röttgen ist Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Deutschen Bundestages). 

Im zweiten Korb befinden sich zwei weitere Christdemokraten, die (noch) nicht erklärt haben, dass sie kandidieren werden: Markus Söder (Ministerpräsident von Bayern) und Ralph Brinkhaus (Parlamentarischer Geschäftsführer der Christdemokraten im Deutschen Bundestag).

Im dritten – und letzten – Korb haben wir zwei Grüne: die Doppelspitze der Partei, Annalena Baerbock und Robert Habeck.

Armin Laschet, der Merkel am nächsten steht

Laschet (mit teils belgischen Vorfahren) ist in seinem Herzen und in seiner Politik ein Mitte-Links-Humanist, aber (noch nicht?!) in der Lage, sich mit Charisma und Entschlossenheit als „der natürliche Führer“ zu präsentieren. Als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, dem größten deutschen Bundesland, ist er der einzige dieser drei Kandidaten, der über intensive Erfahrungen als Regierungschef verfügt. Er gilt als enger Verbündeter Merkels – vor allem in der Flüchtlingspolitik, er setzt Maßstäbe im Dialog mit Minderheiten; er sieht die Zukunft Deutschlands in einer weltweit aktiveren Europäischen Union, glaubt an die Universalität der Menschenrechte, ist überzeugter Multilateralist und kämpft für eine stärkere Rolle der Vereinten Nationen.

Friedrich Merz, der konservativste

Merz (mit teilweise französisch-hugenottischen Vorfahren) ist ein asketischer Mitte-Rechts-Anwalt mit einem hohen Bekanntheitsgrad in der Wirtschaft und verschiedenen Funktionen in Unternehmen und Banken. Er ist Mitglied der Trilateralen Kommission von David Rockefeller und Zbigniew Brzezinski. Nach einer parteiinternen parteipolitischen Niederlage verließ er die Politik und intensivierte seine Präsenz in der Geschäftswelt, indem er Vorsitzender der deutschen Tochtergesellschaft von BlackRock wurde, die mit 7,4 Billionen Dollar der weltgrößte Vermögensverwaltungskonzern ist. Bei Themen wie Flüchtlinge, Migranten, Minderheiten, Klima und damit Sozialpolitik ist er der konservativste der drei Hauptkandidaten.

Norbert Röttgen, der Internationalist

Röttgen ist ein europäischer Internationalist, der über die Rolle des EU-Gerichtshofs promoviert hat, mit klaren Positionen zu den politischen Brennpunkten der Welt (Afrika, China, EU, Iran, Naher Osten, Russland, Türkei, USA). Nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 hatte er den Mut, die schrittweise Abschaltung aller Atomkraftwerke in Deutschland anzukündigen. Wie Laschet vermittelt er nicht den Eindruck, eine Führungspersönlichkeit zu sein, was natürlich ein Nachteil ist.

Wer auch immer gewählt wird – es wird ein Koalitionspartner benötigt

Da das Wahlsystem in Deutschland auf dem Verhältniswahlrecht basiert, hat in der Bundesrepublik keine einzelne Partei jemals die absolute Mehrheit der Sitze erhalten. Deshalb braucht man Koalitionen. Da das Land in diesem Jahrhundert bisher meist von einer „Großen Koalition“ (aus Christdemokraten und Sozialdemokraten) regiert wurde, erklärten diese beiden Parteien öffentlich, dass sie nicht beabsichtigen, diese Tradition fortzusetzen. Die Verlautbarungen der sieben führenden Meinungsforschungsinstitute vom Oktober deuten auf drei verschiedene mögliche Optionen hin (Christdemokraten 35,0-36,0 %, Grüne 18,0-20,0 %, Sozialdemokraten 14,5-17,0 %, Rechtsextreme 9,0-12,0 %, Linke 7,0-9,0 %, Liberale 5,0-7,5 %):

– Christdemokraten mit den Grünen,

– Grüne mit Sozialdemokraten und den Liberalen,

– Grüne mit Sozialdemokraten, der Linken und den Liberalen.

Betrachtet man die 16 Bundesländer, so gibt es derzeit eine Vielzahl von Koalitionen. Christdemokraten, Sozialdemokraten und Grüne sind jeweils 11 Mal, die Linke und die Liberalen jeweils 3 Mal beteiligt.

Für das Frühjahr (?!) gilt: nur einer wird es schaffen

Der Plan sah so aus: Auf dem für den 4. Dezember 2020 geplanten Parteitag der Christdemokraten sollten sich die 1001 Delegierten für einen der drei Kandidaten entscheiden. Am 27. Oktober wurde allerdings bekannt gegeben, dass der Parteitag wegen COVID-19 verschoben wird, ein konkreter neuer Termin wurde noch nicht genannt. 

Die 400.000 Mitglieder der Ortsverbände der Partei – die nicht immer alle Regional- und Bundestagsabgeordneten umfassen – haben diese 1001 Delegierten ausgewählt. Sie werden über den Parteivorsitzenden abstimmen (und deshalb wird diese Person quasi automatisch als Kanzlerkandidat nominiert, der die Nachfolge von Angela Merkel antreten soll). Drei Aspekte werden diese Wahl hauptsächlich bestimmen:

– wer als geeignet betrachtet wird, die Grundwerte der CDU zu repräsentieren und die Wählerschaft zu mobilisieren,

– wer wohl bei der Bundestagswahl ein besseres Ergebnis erzielen wird,

– wer in der Lage sein wird, eine Regierung mit den Grünen, dem wahrscheinlichen Koalitionspartner, zu bilden.

Zweite Möglichkeit: Söder als charismatische mögliche Erfolgsgeschichte

Bei der zweiten Möglichkeit sehen wir zwei weitere männliche Christdemokraten (beide mit einer Außenseiterchance). Die Bayern sind Deutsche – aber nicht wirklich: sie haben sich eine gewisse, oft nur folkloristische „Eigenständigkeit“ bewahrt – in der Politik haben sie ihre eigene christdemokratische Partei, die CSU (und die CDU, die Partei von Merkel, kandidiert nicht bei Wahlen in Bayern). Markus Söder, der 1967 geborene CSU-Vorsitzende, hat von allen möglichen Kandidaten das männlichste, testosterongesteuerte Auftreten. Falls auf dem Parteitag Laschet oder Röttgen gewählt werden, wird er seinen Hut in die Arena werfen – mit dem Argument, dass es einer wirklich starken charismatischen Persönlichkeit bedarf. Die Christdemokraten in den übrigen Bundesländern müssen dann entscheiden, ob sie den Kandidaten der viel kleineren Schwesterpartei akzeptieren wollen. Wo steht Söder politisch? Er stellt sich als bürgernah dar, hat die Flüchtlingspolitik Merkels kritisiert, hat wenig internationale Erfahrung (trotz einiger Kurzbesuche im Ausland, u.a. zu einem Treffen mit Putin). Er ist der populistischste aller Kandidaten in den drei Körben (aber in einer abgemilderten Form).

Zweiter Korb: Ralph Brinkhaus – ein Joker als Kompromiss

Ralph Brinkhaus, Jahrgang 1968, kommt wie die drei Kandidaten aus dem ersten Korb aus dem Bundesland Nordrhein-Westfalen. Er ist Ökonom und wurde erst vor zwei Jahren zu einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, als er zum Vorsitzenden der 246 Abgeordneten der gemeinsamen CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewählt wurde. In diesem neuen Amt gelang es ihm, die Spaltungen innerhalb der Gruppe zu überwinden und eine selten gesehene gemeinsame Identität zu schaffen. Diese besondere Mischung aus Wissen, Werteorientierung, Einfühlungsvermögen, Vertrauenswürdigkeit und einer bodenständigen Kompromisspolitik hat die breite Mehrheit der Abgeordneten der CDU/CSU überzeugt. Wenn die Abstimmung während des Parteitages – höchstwahrscheinlich per Videokonferenz – die beiden Teile der Christdemokraten nicht zufrieden stellen sollte, außerdem Söder von der CDU nicht akzeptiert wird, wenn es zu internen Streitigkeiten kommt und die Umfragen sinken, könnte Brinkhaus, dieser sanfte Meister des Kompromisses, sowohl die CDU als auch die bayerische CSU überzeugen. Über seine politischen Vorstellungen jenseits von Budget-, Geschäfts-, Wirtschafts- und Steuerpolitik ist wenig bekannt. Da er vielleicht weder eine Mitte-Rechts- noch eine Mitte-Links-Politik entwickelt, könnte er ein Kanzlerkandidat der Mitte sein. Es wäre keine ungewöhnliche Konstellation, dass der Fraktionsvorsitzende im Bundestag Bundeskanzler wird – für Kohl und Merkel war es bereits das Sprungbrett ins Kanzleramt.

Dritter Korb: Die Grünen

Für den Fall, dass die wahrscheinlichste aller Koalitionen – Christdemokraten mit den Grünen – nicht möglich sein sollte, kommt eine Koalition der Linken in Frage. Das größte Hindernis, das es zu überwinden gilt, wird für die Sozialdemokraten sein, eine grüne Kanzlerin oder einen grünen Kanzler zu akzeptieren. Die 1863 gegründete SPD, die von 1967 bis 2002 nie weniger als 30 % der Stimmen erhielt (1972 mit Willy Brandt sogar 45,8 %), verlor in diesem Jahrhundert etwa die Hälfte ihrer Mitglieder und schneidet in allen Umfragen immer schlechter ab als die Grünen. Dieser ältesten deutschen Partei würde es äußerst schwer fallen, einen Kanzler der Umweltpartei zu akzeptieren. In diesem Fall könnten die Grünen einen der beiden Ko-Vorsitzenden der Partei stellen.

Annalena Baerbock und Robert Habeck

Baerbock, 1980 in Norddeutschland geboren, hat in Hamburg Jura und Politologie studiert und über Naturkatastrophen und Völkerrecht promoviert. Sie war Leistungstrampolinspringerin, hat im Europaparlament und im Deutschen Bundestag zur Außen- und Sicherheitspolitik gearbeitet, war Vorstandsmitglied der Europäischen Grünen Partei. Ihre politischen Schwerpunkte sind Klimapolitik, Menschenrechte, Geflüchtete und Migration.

Habeck ist 1969 in Schleswig-Holstein geboren, dem nördlichsten der 16 deutschen Bundesländer – nahe der dänischen Grenze. Er studierte Literaturwissenschaft und promovierte über literarische Ästhetik. Er war als Schriftsteller, Romancier, Dichter und Essayist tätig. Sieben seiner 16 Werke schrieb er zusammen mit seiner Frau. Er wurde Minister für Umwelt, Landwirtschaft, Energie und Digitalisierung sowie stellvertretender Ministerpräsident von Schleswig-Holstein.

Seit 2018 führen die beiden als Doppelspitze gemeinsam die Grüne Partei. Sie sind erfolgreich, nachdem seit 40 Jahren alle grünen Doppelspitzen gescheitert waren. Zwei starke Persönlichkeiten, die in der Öffentlichkeit als Team auftreten. Ihre themenorientierte Zusammenarbeit wird in Deutschland auch außerhalb der Grünen als etwas Außergewöhnliches in der Politik anerkannt.

WAS IST MIT FRANKREICH, DEM BREXIT UND CHINA NACH DER MERKEL-ÄRA? 

Der Autor: Frank Schwalba-Hoth (geboren am 12. Dezember 1952 in Hamburg) ist ein ehemaliger Politiker, Gründungsmitglied der deutschen Grünen und ehemaliger Europaabgeordneter. Nach dem Abitur (Otto-Hahn-Gymnasium in Geesthacht) und dem Wehrdienst studierte Frank Schwalba-Hoth von 1974 bis 1981 an der Universität Marburg. 

Mit all seiner Erfahrung und Sachkenntnis erweist uns dieser in Brüssel lebende deutsche Schlüsselakteur die Ehre, mit uns über die wesentlichen Fragen für die Zukunft Europas zu sprechen.

Frankreich

Das deutsch-französische Verhältnis entwickelte sich in den letzten 150 Jahren von der Hölle in den Himmel: Auf die „Erbfeindschaft“ mit drei Kriegen (1870/71, 1914-1918, 1939-1945) folgte eine Periode der „Versöhnung“ (1945-1963) und seit 1963 eine Zusammenarbeit, die als „deutsch-französische Freundschaft“ bezeichnet wird. Die Entwicklung der Europäischen Union hat gezeigt, dass die Beziehung zwischen diesen beiden großen Ländern im Herzen des Kontinents zum unumstrittenen Stabilitätsanker wurde. Die führenden Politiker sind quasi „dazu verurteilt“, sich auf allen Ebenen der Politik, Verwaltung und Wirtschaft – unabhängig von der politischen Zugehörigkeit des Gegenübers – zu beraten, zu kooperieren und sich auszutauschen. Das wird sicherlich am besten durch das Ereignis von 1984 symbolisiert, als sich ein (rechter) Bundeskanzler Kohl mit dem (linken) Präsidenten Mitterand vor den Gräbern von rund 300.000 Soldaten, die 1916 in Verdun in 292 Tagen gefallen sind, an den Händen hielten.

Alle sieben möglichen Kandidaten sind bereit, diese historische Verpflichtung zu übernehmen – Merz und Söder möglicherweise mit weniger Entschlossenheit als die anderen.

BREXIT

Für die meisten britischen Bürger, die in letzter Zeit den Kontinent besuchten, ist es eine große Überraschung, dass der BREXIT keineswegs ein zentrales Thema ist. Während der Brexit in Großbritannien selbst in privaten Beziehungen eine große Rolle spielt, hat der Kontinent dieses Kapitel emotional abgeschlossen. Alle sieben möglichen Kandidaten hatten sich gegen den BREXIT ausgesprochen, blicken nun aber – mit einer gewissen Ergebenheit – auf die Verhandlungen über diese Scheidung.

China

Alle sieben Kandidaten für die Zeit nach Merkel glauben an die internationale Zusammenarbeit. Sie alle glauben auch, dass multilaterale Abkommen zur Bewältigung der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wirksamer sind als bilaterale. Sie alle werden daher versuchen, in Fragen wie Klima und Handel eng mit China zusammenzuarbeiten. 

Wenn man die Haltung Merkels gegenüber China als Maßstab nimmt, könnten Merz und Söder (und wahrscheinlich auch Brinkhaus) weniger eindringlich auftreten, wenn es um die Menschenrechte geht. Diese beiden (oder drei) werden von der Überzeugung angetrieben, dass zu viele Bedingungen den Geschäfts- und Handelsbeziehungen schaden. Alle anderen werden sicherlich in den bilateralen Beziehungen (mehr oder weniger diskret) Themen wie Hongkong, Innere Mongolei, Religionsfreiheit, Südchinesisches Meer, Taiwan, Tibet und Uiguren ansprechen.

(Quelle: tagesspiegel.de)