Der Auftakt der Veranstaltungsreihe “Global China Conversations” des Instituts für Weltwirtschaft, Kiel (IfW Kiel) gilt der Frage des “Decoupling”, der Entkopplung von Lieferstrukturen zwischen den Weltgegenden. Eine Politik größerer Eigenständigkeit für Deutschland und die EU hat zwar im Verlauf der Corona-Krise immer mehr Freunde gewonnen. Die Befürworter einer wirtschaftlichen Entflechtung übersehen jedoch, wie hoch die Kosten dafür ausfallen, schreibt IfW-Präsident Gabriel Felbermayr im China.Table. Denn Handel und Austausch sind effizient und schaffen Wohlstand.
Lieferengpässe infolge der Corona-Krise haben in der EU die Diskussion über eine stärkere wirtschaftliche Eigenständigkeit und die Rückverlagerung der Produktion bestimmter Güter etwa aus China befeuert. Manchmal geht es dabei nur um einzelne kritische Produkte wie zum Beispiel Medizingüter. Doch die Palette der „heimzuholenden“ Produktionsprozesse wird von jenen gerne ausgeweitet, die China als besonders mächtigen strategischen Rivalen einschätzen. Es kann gute strategische Gründe geben, kritische Güter oder industriepolitisch wichtige nicht mehr nur aus China zu beziehen. Was von den Befürwortern einer solchen Politik allerdings häufig unterschlagen wird, sind die Kosten, die damit verbunden sind.
Wir haben am Institut für Weltwirtschaft simuliert, welche Folgen es hätte, wenn die EU Handelsbarrieren – abseits von neuen Zöllen – verdoppeln würde, um die heimische Produktion zu fördern. Das kann zum Beispiel durch eine bevorzugte Vergabe öffentlicher Aufträge, Steuervorteile oder andere Subventionen für EU-Anbieter geschehen – oder durch Importquoten oder -verbote für ausgewählte Güter. Das Ergebnis: Würde die EU einseitig entsprechende Handelsbarrieren gegenüber China verdoppeln, würde das 130 Milliarden Euro (0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, BIP) kosten – bei vergleichbaren Gegenmaßnahmen Chinas wüchsen die Kosten auf 170 Milliarden Euro (1 Prozent des BIP).
Schon das teilweise Entkoppeln von internationalen Liefernetzen würde also den Lebensstandard der Menschen in der EU – wie auch bei ihren Handelspartnern – deutlich verschlechtern. Dagegen sind die angeblichen Vorteile einer größeren Autonomie oder Souveränität häufig diffus und schwer zu beziffern. Sie könnten sogar illusorisch sein, falls Risiken sich dadurch in einer kleineren Zahl von Märkten ballen. Die jüngste Flutkatastrophe in Deutschland hat gezeigt, dass sich Krisen auch direkt vor unserer Haustür ereignen können, die Produktion in Europa also nicht in jedem Fall ein „sicherer Hafen“ ist.
Intuitiv würde man meinen, dass sich die Entkoppelung von Liefernetzen dann auszahlt, wenn ein Lieferanten-Land einen wirtschaftlichen Schock erleidet – wie zum Beispiel China, als die Corona-Epidemie noch ein dortiges lokales Ereignis war. Doch selbst für diesen Fall zeigen Simulationen, dass eine generelle Entkoppelung von Lieferketten größeren wirtschaftlichen Schaden anrichtet, als wenn sich der wirtschaftliche Schock aus dem betroffenen Land auf andere überträgt.
Ein Abkoppeln der EU von internationalen Zulieferern würde auch die Preise für Zwischengüter steigen lassen. Das überträgt sich entlang der Lieferketten in höhere Preise sowohl für innerhalb der EU konsumierte Güter als auch für EU-Exporte, die dann wiederum Güter in anderen Ländern verteuern. Solche ungewollten Nebeneffekte, die eine Autonomiepolitik der EU haben könnte, werden häufig ausgeblendet.
Alternative Instrumente für die Diversifizierung
Deutschland wäre als international wirtschaftlich besonders stark vernetztes Land härter als viele andere EU-Länder betroffen: Bei einer einseitigen Entkoppelung von China trüge Deutschland rund ein Viertel der Lasten (32 Milliarden Euro, 0,9 Prozent des BIP). Ein eskalierender Handelskrieg mit China könnte diese Kosten noch einmal um 50 Prozent steigen lassen.
Von einer einseitigen Abkoppelung von China würden einige Branchen in der EU durchaus profitieren – etwa der Groß- und Einzelhandel, der Bausektor oder der Maschinen- und Anlagenbau. Andere Sektoren – vor allem der Fahrzeugbau – würden Wertschöpfung verlieren. Bei einem zweiseitigen Handelskrieg mit China wäre das Ergebnis über alle Branchen negativ.
Wer die Abhängigkeit verringern will, sollte andere Instrumente wählen. Statt chinesische Lieferanten rauszudrängen, wäre es sicherlich sinnvoller, Liefernetze zu diversifizieren, um in Krisen- oder Konfliktfällen auf mehrere Lieferanten zugreifen zu können. Bei kritischen Gütern zum Beispiel aus dem Medizinsektor könnte der Liefersicherheit ein höheres Gewicht in den Beschaffungsverträgen der Krankenkassen mit den Pharmaunternehmen gegeben werden – etwa durch entsprechende Vertragsstrafen. Lagerhaltung ist teuer, kann aber zu einer lohnenswerten Versicherung gegen Produktionsausfall werden, wenn die Zahlungsbereitschaft für Liefersicherheit künftig höher ist als in der Vergangenheit. Die Entwicklung zu einer Kreislaufwirtschaft, die stark auf Recycling setzt, hat nicht nur ökologische Vorteile, sondern kann auch die Abhängigkeit etwa von Rohmateriallieferungen Dritter verringern. Und ein tief integrierter europäischer Binnenmarkt ist die vielleicht beste Versicherung gegen Abhängigkeiten in internationalen Wirtschaftsbeziehungen.
Wer über negative Aspekte der Abhängigkeit von China diskutiert, darf die Kosten nicht außer Acht lassen, wenn die Vorteile internationaler Arbeitsteilung aufs Spiel gesetzt werden. Das bedeutet nicht, dass ein „Weiter wie bisher“ die beste Lösung ist. Aber die Kosten-Nutzen-Abwägung eines neuen Politikansatzes mit Blick auf China muss schon vollständig ausfallen.
Gabriel Felbermayr (* 24. Juni 1976 in Steyr) ist ein österreichischer Wirtschaftswissenschaftler. Seit dem 1. März 2019 ist Felbermayr Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW). Felbermayr soll am 1. Oktober 2021 Präsident des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung werden.
Dieser Beitrag gehört in den Kontext der Veranstaltungsreihe “Global China Conversations” des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel (IfW). Am Donnerstag (26. August 2021) diskutieren Institutspräsident Gabriel Felbermayr und Jörg Wuttke, Präsident der EU-Handelskammer in China, im Rahmen dieses Formats über das Thema “China und Europa: Riskante wirtschaftliche Abhängigkeiten?” China.Table ist Medienpartner der Veranstaltungsreihe.
(Quelle: China.Table)