Die Wirtschaft will investieren, die Politik zeigt weniger Interesse – und in der Diplomatie werden Köpfe geschüttelt, wenn es um die deutsche Außenwirtschaft in Zentralasien geht. Der diplomatische Berater und Regionalexperte Urs Unkauf im Ostexperte-Interview über die Neue Seidenstraße, die „westliche Hemisphäre“ unseres Planeten und warum Deutschland eine Zentralasienstrategie braucht.

Sie sind diplomatischer Berater und Zentralasienexperte und arbeiten für den BWA. Welche Art von Politikberatung machen Sie in diesem Zusammenhang?

Der Bundesverband für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft ist ein Verband der deutschen Wirtschaft, der die Interessen von Mittelstand und Großunternehmen repräsentiert und aktiv vertritt. Der BWA wurde im Jahr 2003 mit dem Ziel gegründet, neue Märkte zu erschließen und die Internationalisierung der deutschen Wirtschaft zu fördern. Seither arbeitet der Verband mit über 80 Ländern auf allen Kontinenten zusammen und bildet somit eine wichtige Schnittstelle der deutschen Wirtschaftsdiplomatie.

Meine Tätigkeit ist eine Mischung aus Commercial Diplomacy und Public Diplomacy, ich bin also an der Schnittstelle zwischen Wirtschaft, Vertretern aus Politik, Diplomatie und Institutionen der Wirtschafts- und Außenwirtschaftsförderung. Es geht darum, die richtigen Akteure für gute Geschäfte und für nachhaltige Beziehungen in beide Richtungen zusammenzubringen. Das macht mir als jemandem, der sehr gerne reist und fünf Sprachen spricht, unglaublich viel Spaß.

Was macht der BWA?

Der BWA ist eine Stimme der deutschen Außenwirtschaft. Unsere Mitglieder sind Unternehmen aller Größen und Branchen, von Automobilzulieferern über die Finanzindustrie, internationale Kanzleien, bis hin zu Agrar- und Bauunternehmen. Der BWA ist hundertprozentig finanziert durch Mitgliedsbeiträge und Spenden und als nichtstaatlicher Akteur weltanschaulich überparteilich, aber nicht unpolitisch. Unsere Mitglieder eint das Interesse an internationalen Geschäftskontakten und Wirtschaftsbeziehungen, wir haben ebenfalls ca. zehn bis 15 Prozent ausländische Mitglieder – es gibt beispielsweise Unternehmen aus China, Russland und afrikanischen Ländern. Der BWA ist ein Verband, der mit einem pragmatischen Ansatz arbeitet: Von Unternehmern für Unternehmer und mit dem Leitbild der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft, womit er sehr auf Höhe der Zeit ist. Das heißt wir orientieren uns an Prinzipien des nachhaltigen und sozialen Wirtschaftens, und möchten die deutsche Wirtschaft auch darin unterstützen werteorientiert zu arbeiten und betonen die gesellschaftliche Verantwortung der Wirtschaftsakteure.

Wie oft muss man dazu international reisen?

Beruflich reise ich sehr viel umher. Vor Corona war die Reisetätigkeit weitaus umfangreicher. Seit Mitte Mai war ich jetzt immer abwechselnd eine Woche im Ausland und eine Woche in Berlin, zum Beispiel auf Delegationsreisen und bei Wirtschaftskonferenzen. Das ist ein gutes Wechselspiel. Für die internationalen Beziehungen war die Coronakrise vernichtend, denn Videokonferenzen können nicht ersetzen, was persönliche Begegnungen von Entscheidungsträgern an Ergebnissen bringen. Das wurde auch bei der Zentralasien-Südasien-Konferenz in Taschkent im Juli 2021 sehr stark deutlich. Es freut mich sehr zu sehen, dass die GUS-Länder einen Impuls setzen, dort und auch beim internationalen Wirtschaftsforum in Sankt Petersburg, was Anfang Juni unter den erschwerten Bedingungen ebenfalls hervorragend organisiert und durchgeführt wurde. Das ist auch ein Zeichen, dass wir in einer zunehmend multipolaren Welt leben und solche Formate nicht mehr in Washington, Brüssel oder Berlin stattfinden, sondern jetzt nach Sankt Petersburg, Wladiwostok oder Taschkent gereist wird.

Für mich ist ein wichtiger Punkt, dass ich den Ländern mit einer interessierten Offenheit begegne, die Neues und Andersartiges akzeptiert und zunächst versucht, die eigenen Vorstellungen wie die Welt auszusehen hätte zurückzustellen und Gedanken- und Handlungsmodelle, die man aus Westeuropa oder Deutschland kennt, nicht automatisch zu übertragen und zu sagen: Es muss alles so sein wie zuhause. Mit einer solchen Einstellung könnte ich auch in Deutschland bleiben. Bei internationalen Begegnungen ist grundsätzlich immer die Bereitschaft erforderlich, sich auf Neues einzulassen, ein großes Maß an Weltoffenheit im positiven Sinne mitzubringen und sich mit Respekt auf Augenhöhe zu begegnen.

Im Juli fand die internationale Zentralasien-Südasien-Konferenz in Taschkent statt, es ging um interregionale Zusammenarbeit: Ein Zeichen für mehr Einflussnahme großer Staaten wie China und Russland?

Das Gastgeberland der Konferenz, Usbekistan, hat sich in den letzten fünf Jahren, seit dem Amtsantritt von Präsident Schawkat Mirsijojew, weitgehend geöffnet, sowohl für den Tourismus als auch für Geschäftsreisen. Zum Beispiel braucht man seit einiger Zeit für einen Aufenthalt von bis zu 30 Tagen kein Visum mehr bei Einreise aus verschiedenen Ländern – darunter Deutschland –, es gab eine umfassende wirtschaftliche Liberalisierung, es sind vielfältige gesellschaftliche Transformationsprozesse dort zu beobachten, die wir hier oft gar nicht richtig wahrnehmen, obwohl Usbekistan mit 30 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land Zentralasiens ist.

Die Eigenständigkeit, auf die die GUS-Staaten nach 30 Jahren jetzt zurückblicken ist etwas, was zurecht sehr stark betont wird. Wenn man sich in einer geopolitischen Mittellage befindet, wie in Zentralasien zum Beispiel zwischen China und Russland, ist man gezwungen, seine eigene Position zu definieren und die Interessen mit den sich umgebenden Seiten in Ausgleich zu bringen. Das machen aus meiner Sicht alle zentralasiatischen Staaten mit verschiedenen Nuancen und Präferenzsetzungen, aber durchaus intelligent aus Sicht der eigenen nationalen Interessen. Was ganz deutlich wurde: die Außenminister von China, Wang Yi, und Russland, Sergej Lawrow, die auch auf der Konferenz waren, hatten dort keine sehr dominierende Stellung, dass von einer Übernahme durch China oder Russland gesprochen werden könnte. Die ersten Redner waren der usbekische Präsident, dann der afghanische Präsident und der Premierminister Pakistans und rund 20 Wirtschafts- und Außenminister aus verschiedenen Staaten. Die multipolare Realität, in der wir mittlerweile leben, wird auch so wahrgenommen. Deutschland war leider nicht auf Ebene eines Außenministers oder Staatssekretärs vertreten. Das war aus Sicht der meisten Konferenzteilnehmer mit denen ich sprach ein Understatement für ein Land, was von vielen immer noch als führende Kraft in Europa wahrgenommen wird. Die Frage ist natürlich, welche strategischen Interessen Deutschland in der Zukunft dort entwickeln kann, auch aus Sicht unserer Wirtschaft, wenn wir diese politischen Dialogformate nur in einem derart eingeschränkten Rahmen wahrnehmen.

China nimmt aber durch das Infrastrukturprojekt der Neuen Seidenstraße geopolitisch und wirtschaftlich starken Einfluss in Zentralasien. Wie reagieren die EU und der Westen?

Deutschland war bei der Konferenz auf anderer Ebene durch das Auswärtige Amt vertreten, die EU ebenfalls durch den Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borell. Aber wenn man sich die Präsenz der arabischen Welt und Südasiens und den angrenzenden Regionen vor Augen führt, ist es eine eher kleine Gruppe, die den „alten Westen“ dort vertreten hat. Ich denke, es wird Verschiebungen geben, was die ökonomischen und politischen Zentren der Weltpolitik angeht. Wir haben im BWA sogenannte Bundesfachkommissionen zu verschiedenen Themen, so auch die Kommission für die Neue Seidenstraße, in deren Leitung ich mich engagiere. Dort haben wir uns mit dieser Frage befasst und festgestellt, dass die Länder zuerst eigene nationale Interessen definieren, bevor sie sich an diesem Projekt von globaler Dimension beteiligen. Man muss sich vor Augen führen, wo Risiken von Abhängigkeiten liegen, aber vor allem auch die Chancen sehen. Die Chancen werden in den meisten Fällen für viele Länder die Risiken mittel- bis langfristig überwiegen. Die Neue Seidenstraße ist ein zentraler Transportkorridor des 21. Jahrhunderts, es gibt die Tendenz, dass immer mehr Warenverkehr über die Schiene abgewickelt wird. Die sicherheitspolitischen Aspekte bei Seeverbindungen spielen eine immer größere Rolle – Stichwort Suez-Kanal oder Straße von Hormus – weshalb der Schienentransport auch aus unternehmerischer Sicht immer bedeutender wird. Neben der Seidenstraße gibt es weitere Infrastruktur- und Konnektivitätsprojekte in Eurasien. Ich bin gespannt, ob es Deutschland und Europa gelingt, sich dort in den nächsten Jahren gewinnbringend einzubringen.

Wie könnte eine stärkere Beteiligung Deutschlands und Europas wirtschaftlich denn aussehen?

Ein Endpunkt der Seidenstraße liegt mit Duisburg ja in Deutschland. Hier ließe sich überlegen, was mit dieser strategischen Position in Europa gemacht werden könnte. Wie können wir auch unsere Unternehmen motivieren, sich an der Ausgestaltung der Neuen Seidenstraße zu beteiligen, zum Beispiel durch DB Cargo oder andere führende Unternehmen in dem Bereich. Das betrifft auch die Frage, wo die Produktion zukünftig stattfindet – nämlich zunehmend im Süden und Osten, der Norden und Westen entwickeln sich weiter in Richtung Dienstleistungs-, Beratungs- und serviceorientierten Gesellschaften. Das merkt man zum Beispiel auch mit Blick auf die aktuellen Zahlen des deutschen Maschinen- und Anlagenbaus, oder der Frage nach den Bezugsquellen der Rohstoffe. Grundsätzlich ist die Frage, wie die Wirtschaftsstruktur der Zukunft aussehen soll – haben wir hierfür überhaupt eine Vision? Ich glaube nämlich nicht. Das betrifft natürlich auch die Arbeitswelt der Zukunft. Aus meiner Wahrnehmung sind wir immer noch etwas in dem gefangen, was wir mit dem Wirtschaftswunder in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt hatten. Das klassische ‚Normalverdiener-Modell‘ aus dem 20. Jahrhundert ist wahrscheinlich nicht zukunftsfähig, gewisse Strukturen des Sozialstaats müssen überdacht werden, die globale Ebene wird für Entscheidungswege immer wichtiger. Deshalb müssen wir uns an der Debatte beteiligen, auch mal auf andere Länder hören und nicht glauben, wir hätten die Weisheit für uns allein in der westlichen Hemisphäre unseres Planeten gepachtet.

Was raten sie Unternehmen, die an Geschäften in Zentralasien interessiert sind?

Um langfristig erfolgreich zu sein kommt es immer darauf an, dass man seine Partner vor Ort persönlich kennt. Der Stellenwert der zwischenmenschlichen Beziehungen wird sehr deutlich, privat wie geschäftlich. Das betrifft die Unternehmensseite, aber auch Regierung und Verwaltung. Idealerweise bringt man Sprachkenntnisse mit oder hat ein russischsprachiges Team – denn Russisch ist nach wie vor die Verkehrssprache in der Region. Aus Investitionssicht gibt es Länder, die in bestimmten Bereichen durchaus in der Weltliga spielen, zum Beispiel Kasachstan mit dem Astana International Finance Centre, ein wirklich attraktiver Unternehmensstandort. Ein wichtiger Aspekt ist auch der Ausbau der Investitions- und Rechtssicherheit, auch da gibt es überall Reformbemühungen, die staatlich gefördert werden. Die politischen Systeme werden kontrovers beurteilt, aus unternehmerischer Sicht ist Stabilität aber ein zentraler Faktor. Bis heute ist die Region durch den Islam geprägt – die zentralasiatischen Staatsführer verfolgen aber einen konsequenten Kurs der Trennung von Staat und Religion der gegen religiöse Radikalisierung auf allen Ebenen wirkt. Säkularität wird in der westlichen Modernisierungsdebatte als ein Qualitätskriterium angesehen, und die Verlässlichkeit von säkularen staatlichen Strukturen spielt eine wichtige Rolle in Zentralasien. Die verschiedenen Regionen haben unterschiedliche Schwerpunkte entwickelt; zum Beispiel die Textilproduktion in Usbekistan, Kasachstan ist für deutsche Unternehmen nach wie vor das führende Land für die Handelsbeziehungen mit Zentralasien. Aber auch die anderen Länder wie Tadschikistan, Kirgisistan und Turkmenistan sind interessante Märkte, die noch darauf warten, entdeckt zu werden. Die Bevölkerungen und politischen Eliten dort sind Deutschland und Europa gegenüber grundsätzlich sehr positiv eingestellt.

Welche Empfehlungen haben Sie für die deutsche Außenwirtschaftspolitik?

Neben einer stärkeren politischen Präsenz ist ein Dialog auf Augenhöhe essentiell. Wie sollten nicht ständig versuchen, unsere Lebensmodelle weltweit zu exportieren, das wird nicht funktionieren. Veränderungen müssen sich aus den Dynamiken der jeweiligen Gesellschaft entwickeln. Man sollte außerdem auch mehr Zentralasienkompetenz aufbauen. Zum Beispiel die historischen Entwicklungen und Prozesse der Vormoderne, das sind Fragen, die wir im Umgang mit den dortigen Ländern zu wenig beachten, was auch die kulturellen Besonderheiten betrifft. Für viele Entscheidungsträger ist die Region immer noch ein monolithischer Block und die „ehemalige Sowjetunion“ – aber die Länder haben in den letzten 30 Jahren eine souveräne Politik aufgebaut. Die Empfehlung an die Politik ist ganz klar: Zuhören, gemeinsam wachsen und lernen, und nicht glauben, dass wir in Deutschland immer der Weisheit letzten Schluss haben, sondern mit Offenheit und Neugier aufeinander zugehen und die Meinung der anderen Seite respektieren. Auch sollten die eigenen wirtschaftlichen Interessen klar artikuliert werden, das betrifft auch die Bereiche Bildung und Kulturtransfer. Da kann mit den Ländern zusammengearbeitet werden, es gibt ein sehr großes Interesse an der deutschen Kultur und die Bereitschaft, die deutsche Sprache zu lernen. Insbesondere in Kasachstan gibt es noch deutsche Minderheiten, die für die Kulturbeziehungen zur gesamten Region wichtig sind. Alles zusammen ergibt ein Bild von Zentralasien, mit dem wir in den letzten 30 Jahren zu wenig Potentiale realisiert haben. Es gibt die Zentralasienstrategie der Europäischen Union, die vor einigen Jahren als Rahmenkonzept neu aufgelegt wurde. Aber wir sollten als Bundesrepublik Deutschland auf einen pragmatischen und ebenfalls national interessenorientierten Dialog setzen. Wir brauchen eine deutsche Strategie für Zentralasien, diese sollte kein starres Konzept sein, sondern einen offenen Leitfaden zum eigenständigen Handeln für Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Politik bilden. Die Hoffnung, dass die neue Bundesregierung dabei aktiv werden wird, hält sich im überschaubaren Rahmen, weil die Präferenzsetzungen momentan ganz andere sind, nach außen wie nach innen. Als BWA stehen wir weiter für einen konstruktiven Dialog mit allen Akteuren in Zentralasien und wollen mit praktischen Initiativen und Kooperationsprojekten zeigen, wie das konkret gestaltet werden kann.

Die Fragen stellte Fiete Lembeck. Im Interview geäußerte Ansichten geben die persönliche Auffassung des Interviewpartners wieder.

Urs Unkauf (geb. 1994) ist diplomatischer Berater des Bundesverbandes für Wirtschaftsförderung und Außenwirtschaft (BWA). Von 2013-2016 Studium der Geschichte und Soziologie an den Universitäten Tübingen und Aix-en-Provence/Marseille (B.A., Licence d’Histoire). Masterstudium der Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Akademische Projekte führten ihn u. a. nach Israel, Belarus, in die Russische Föderation, Aserbaidschan und die Ukraine. Seine thematischen Schwerpunkte sind Außenpolitik, Diplomatie, Energiepolitik und die Entwicklung der Beziehungen Deutschlands zu Russland sowie zu den Staaten Mittel- und Osteuropas, des Südkaukasus und Zentralasiens. Berufliche Stationen in den Bereichen Politikberatung und Public Affairs (Außenwirtschaft, europäische und internationale Regierungsbeziehungen). Er engagiert sich u. a. im Deutsch-Russischen Forum und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Unkauf nahm 2017 am 48. Young Leader Seminar sowie dem II. Jugendforum der Potsdamer Begegnungen und 2018 an den XXI. Potsdamer Begegnungen des Deutsch-Russischen Forums teil.

(Quelle: Gesucht: „deutsche Strategie für Zentralasien“ – Ostexperte.de)