Institutionelle Barrieren in Frankreich für TCM

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                                 –   “Eine Schlange, die sich in den Schwanz beißt?“

LHCH: Was sind, neben den mentalen Barrieren, die Hindernisse für die Ausübung der chinesischen Medizin auf institutioneller Ebene in Frankreich im Jahr 2021?

Éric Marié: Ganz einfach, in meinem Land gibt es kein offizielles Statut für die chinesische Medizin.

LHCH: 2021? Obwohl die chinesische Medizin in der Bevölkerung so gut ankommt, wie ja auch in ganz Europa?

Éric Marié: Ja, in der täglichen Praxis ein großer Erfolg, aber ohne wirkliche rechtliche Verankerung. Zum Beispiel haben wir immer noch die alte Regelung zur Akupunktur aus den Jahren 1980-1990, als komplementäres Fachgebiet, aber nur für Allgemeinmediziner. Ein Kardiologe kann also keine Akupunktur praktizieren! Das ist ein Fehler. Gleichzeitig gibt es staatliche Krankenhäuser, die Akupunktur, Tui Na-Massagen usw. sowie Ärzte hinzuziehen, die aber keinen offiziellen Status haben.

LHCH: Werden sie trotzdem bezahlt?

Éric Marié: Manche arbeiten ehrenamtlich, aber es gibt auch Programme, die sie je nach Status bezahlen, zum Beispiel den Status eines Yogalehrers.

Éric Marié

LHCH: Im Jahr 2021 sind wir immer noch bei der institutionellen „Bastelei“, was die chinesische Medizin betrifft. Was ist mit der Vermittlung dieses alten Wissens?

Éric Marié: Die Probleme hängen zusammen. Trotz des offensichtlichen Nutzens für viele Menschen erfolgt die Auswahl der Behandler*innen oft willkürlich, selbst in Krankenhäusern. Die Frage, die schmerzt, ist die nach der Seriosität der Lehre der chinesischen Medizin in Frankreich.

LHCH: Ernsthaft? In Frankreich gibt es keine wirklichen institutionellen Ausbildungsgänge in chinesischer Medizin wie in China?

Éric Marié: Die gibt es meines Wissens in ganz Europa nicht. Dies ist das Hauptproblem, das hier Zweifel an der Professionalität derer aufkommen lässt, die die chinesische Medizin praktizieren. Wussten Sie, dass in China die erste Stufe des Studiums „Penghe“ 5 Jahre dauert, einschließlich eines einjährigen Praktikums in einem Krankenhaus? Anschließend wird man weiter in einem Spezialisierungsbereich ausgebildet. Das sind dann drei weitere Jahre für den „Shuoshi“. Das sind dann acht Jahre und wenn man promovieren will, muss man noch mal drei Jahre dranhängen. Das heißt, es gibt in China viele Ärzte, die 11 Jahre studiert haben.

LHCH: Und in Frankreich?

Éric Marié: Davon sind wir weit entfernt. Es gibt eine Ausbildung mit Praktika von wenigen Wochen bis maximal ein, zwei Jahren an Instituten, die eng oder fern mit China zusammenarbeiten.

LHCH: Bevor Sie auf Ihr Institut zu sprechen kommen, das ja eine anständige Ausbildung anbietet, wie sah Ihr universitärer Werdegang aus?

Éric Marié: Ich habe mein gesamtes elfjähriges Studium an der Universität Jiangxi in Nanchang absolviert. Damals war es noch nicht sehr international oder touristisch. Es gab nur sehr wenige Weiße. Eine andere Welt, akademisch gesehen, aber mit einem an die Universität angeschlossenen Krankenhaus und sehr unterschiedlichen Studienfächern. Nachdem ich meine Doktorarbeit in chinesischer Medizin verteidigt hatte, wurde ich eingeladen, in China zu unterrichten. Eine unglaubliche Erfahrung von 1997 bis 2008, und in der Zeit habe ich mein Buch „Précis de la Médecine Chinoise“ geschrieben, das dann in Frankreich veröffentlicht wurde. Ich war sogar Leiter einer internistischen Abteilung in einem chinesischen Krankenhaus!

LHCH: Über elf Jahre in China. Was ist mit Ihren Verbindungen zu Europa?

Éric Marié: Ich bin auch immer wieder in Länder des Westens gereist, wo ich als chinesischer Wissenschaftler eingeladen war. Ich habe mich mit französischen Akademikern unterhalten. Haben Sie in Frankreich Chancen gesehen? Eine akademische Karriere in Europa begonnen? Dank meiner chinesischen Titel, meines universitären Werdegangs, meiner Veröffentlichungen und bereits mehrerer Bücher kam ich an die EHESS, eine französische Elite-Hochschule. Zum Beispiel habe ich 1990 „Die große chinesische Pharmakopöe“ geschrieben. Ich habe mit einer Arbeit über die vergleichende Geschichte der chinesischen und europäischen Medizinsysteme direkt im Anschluss promoviert. Mein Ansatz war dabei ein sehr historischer und erkenntnistheoretisch-europäischer. Dann wurde ich Dozent und Universitätsprofessor. Genf, Lausanne, Louvain-la-Neuve in Belgien, in den Abteilungen für Geschichte und Epistemologie der Medizin.

EINE BEISPIELHAFTE KONTINUITÄT ZWISCHEN DEN BEIDEN MEDIZINSYSTEMEN

LHCH: Und welcher Abschnitt war am ehesten im Einklang mit Ihrem Studium in China?

Éric Marié: Ohne zu zögern würde ich sagen, das war an der Universität Montpellier. Ich habe den theoretischen, aber auch den praktischen, klinischen Aspekt der chinesischen Medizin gelehrt. Das war aus meiner Sicht eine historische Premiere in der westlichen Welt. Meine Lehrtätigkeit sorgte dafür, dass ich einen echten, dort anerkannten Abschluss in chinesischer Medizin erlangte.

LHCH: Eine einmalige Erfahrung… Hatten Sie an dieser Fakultät einen Nachfolger?

Eric Marié: Nein. Niemand hat dann übernommen. Aber durch die Gründung meines eigenen Instituts konnte ich die akademischen Verbindungen zur Universität aufrechterhalten. Ein Versprechen der Seriosität.

LHCH: Wie unterscheiden sich westliche Medizin und chinesische Medizin in der Lehre an den Universitäten in China?

Éric Marié: Das sind zwei völlig voneinander unabhängige Bereiche. Aber in der Praxis kann man an einer Hochschule für chinesische Medizin studiert haben und sich an einem „konventionellen“ Krankenhaus bewerben. Und umgekehrt. Natürlich wählen wir nach unseren Fähigkeiten.

LHCH: Wie gut kommen die Studenten der chinesischen Medizin mit der westlichen Medizin zurecht?

Éric Marié: 1.800 Stunden westliche Medizin. Stellen Sie sich vor, in einer abgelegenen Ecke Chinas, in einer kleinen Apotheke, muss ein Arzt die beiden Medizinsysteme kennen. Es gibt keine Dichotomie wie in Europa. Die chinesische Medizin ist in China eine Institution. Da gibt es eine Kontinuität der beiden. Als „chinesischer“ Arzt kann ich ein MRT lesen; ich benutze leistungsstarke technologische Werkzeuge; während ich weiterhin meine Kunst der Pulsdiagnose, Akupunktur usw. praktiziere. Kurzum, ein chinesischer Arzt ist kein weiß gekleideter New-Age-Magier.

LHCH: Werden die Schwächen der einen Praxis durch die Stärken der anderen ausgeglichen? Zum Beispiel die zu analytische westliche Medizin, die von der eher ganzheitlichen chinesischen Medizin unterstützt wird?

Éric Marié: Indirekt, ohne Zweifel. Aber es gibt keinen Wunsch nach Synkretismus. Sie müssen beide praktiziert werden, ohne sich der anderen unterzuordnen! In Europa wird die chinesische Medizin zu oft nur als Ergänzung zur Schulmedizin gesehen. Natürlich sind nicht alle Parallelen gut. Die chinesische Medizin, die einen globaleren Ansatz verfolgt, kann nicht, wie die Schulmedizin, Spezialgebiete haben, wie zum Beispiel die Chirurgie.

GEGENSEITIGES VERTRAUEN UND KORPORATISMUS: DIE SCHLANGE BEISST SICH IN DEN SCHWANZ (EIN TEUFELSKREIS)

LHCH: Kommen wir zurück nach Frankreich. Wie sieht es auf der Ebene der Institutionalisierung der chinesischen Medizin aus, was ist der Standpunkt der politischen Entscheidungsträger?

Éric Marié: Die Richtlinien sind im Prinzip in Ordnung, aber wie wir bereits festgestellt haben, wie viele Praktiker der chinesischen Medizin gibt es hier und sind es genug? Der Französische Akademische Rat für Chinesische Medizin hat in Zusammenarbeit mit einer Vereinigung von Studentenverbänden der chinesischen Medizin soziologische Analysen in Frankreich durchgeführt: 1.000 Praktiker haben anonym geantwortet, ebenso wie Lehrer der Disziplin in Frankreich. Eine Anzahl, die signifikant genug ist, um objektive Ergebnisse zu liefern.

LHCH: Was kam dabei heraus?

Éric Marié: Ein großes Gefälle im Bildungsniveau, keine Vorschriften, kein offizieller Zugang zum Beruf. Selbst innerhalb der Verbände gibt es keine Kontrolle über das Niveau der Lehrkräfte. Sie prüfen nur, ob die Ausbildung der beim Verband angemeldeten Schule dem offiziellen Programm des jeweiligen Verbandes entspricht. Auch die wahnwitzige Zunahme der Zahl derer, die praktizieren, wirft Fragen auf. Es gibt in Frankreich mehr Schulen für chinesische Medizin als medizinische Fakultäten! Sie bilden „Spezialisten“ aus, deren Ausbildung von unseren 100 Stunden bis zu mehr als 5000 Unterrichtsstunden reicht.

LHCH: Ohne jetzt auf das Thema einzugehen, muss es unter den chinesischen Ärzten, die ihren Abschluss in China gemacht haben, ein gewisses Misstrauen gegenüber dieser unwahrscheinlichen Masse an europäischen Praktikern geben, die mehr eifrig als wirklich professionell sind.

Éric Marié: Sagen wir mal so: Oft bestehen die Verbände der chinesischen Ärzte nur aus Chinesen. Aber am schwerwiegendsten ist das Urteil der Fachleute in der Schulmedizin und das der Politiker. Aber sollten wir 80 % der französischen Praktiker der chinesischen Medizin, die nicht das Niveau ihrer Kollegen in der Schulmedizin haben, eliminieren? Denken Sie an die Arbeitslosigkeit. Die Politiker drücken ein Auge zu. Manchmal gehen nur ein paar Scharlatane zu weit und werden verklagt. Aber in Frankreich ist es oft eine Vogel-Strauß-Politik.

LHCH: Gleichzeitig haben wir bereits gesagt: Die Europäer sind sehr begeistert von der Öffnung der klassischen Medizin für die chinesische Medizin!

Éric Marié: Ja, und deshalb gibt es angesichts dieses Erfolgs, dieser Bedrohung, einen Korporatismus, eine korporatistische Ideologie, die benutzt und vermittelt wird, um die Privilegien der konventionellen Ärzte zu schützen. Aber am kompliziertesten ist es auf der Ebene der Politik, die auf die Nachfrage der Bürger im institutionellen Bereich eingehen könnte.