Immer mehr Chinesinnen und Chinesen machen sich auf die Suche nach Gelassenheit und Inspiration – einige finden sie im Städtchen Dali (大理).
Auf einmal spürte Fang Le nur noch Traurigkeit und endlose Leere. Fast ein halbes Jahr dauerte es, bis sie lernte, ihre neue Situation zu akzeptieren. «Es war, als ob mein Leben nichts mehr wert sei», erinnert sich Fang Le. In ihrem alten Leben sass die Beraterin an rund 200 Tagen im Jahr im Flugzeug. Als Maklerin einer grossen Pekinger Immobilienfirma zeigte sie wohlhabenden Chinesen Wohnungen und Häuser im Ausland. Ständig reiste Fang Le um die Welt, ein Leben zwischen Flughäfen, Hotels und Empfängen, immer auf der Überholspur.
Als vor zwei Jahren das Coronavirus zuschlug, brach das Geschäft des Immobilienvermittlers über Nacht zusammen; von rund hundert Mitarbeitern der Firma blieben drei übrig. Auch Fang Le verlor ihre Stelle. Ihr war, als öffnete sich der Boden unter den Füssen. Eine Freundin riet ihr, zu ihr, nach Dali, einem malerischen Städtchen in der Provinz Yunnan, ganz im Süden Chinas, zu kommen. Fang Le kannte den Ort bereits von mehreren Besuchen, zeitweise war sie zwischen Peking und Dali gependelt, der malerischen Landschaft wegen. Ohne Job, aber mit etwas Erspartem zog sie schliesslich ganz in den Süden und eröffnete ein Guesthouse. Allmählich fand sie wieder Halt.
An einem Morgen im Dezember sitzt Fang Le im Empfangsbüro ihres kleinen Hotels. Durch eine grosse Glasscheibe geht der Blick in den Innenhof. Die aufgehende Sonne taucht den Hof in rötliches Licht; zwischen Kakteen, kleinen Palmen und Rosenstöcken tollt ein Pudel. «Die ersten sechs Monate in Dali waren Stress pur», erzählt Fang Le, «ich war ständig nervös und musste erst einmal realisieren, dass mit meinem vorherigen Geschäft alles vorbei war.» Sie kam nicht zur Ruhe.
Jenseits von Kommerz
Jetzt, fast zwei Jahre nachdem die Corona-Krise ihr Leben auf den Kopf gestellt hat, wirkt Fang Le gelöst. Die junge Chinesin lacht viel – sie hat die Einzelteile ihres Lebens aufgehoben und neu zusammengesetzt. Sicher, das Geschäft mit den Hotelgästen läuft wegen der Pandemie nur schleppend. Doch in Dali hat Fang Le etwas gefunden, das ihr altes Leben ihr nie gab: Ruhe, Gelassenheit, Inspiration.
Dali liegt im Südwesten Chinas auf knapp 2000 Meter Höhe. Bis zur Grenze Myanmars sind es von hier kaum mehr als 300 Kilometer, bis in die chinesische Hauptstadt Peking hingegen fast 3000. Der Ort mit seinen rund 80 000 Einwohnern ist durchzogen von malerischen Gassen, links und rechts stehen kleine Geschäfte, Restaurants und Wohnhäuser, viele von ihnen sind im traditionellen chinesischen Baustil errichtet. Im Mittelalter war Dali die Hauptstadt des Königreichs der Volksgruppe der Bai und des Königreichs von Dali. Ausserdem war die Stadt einst ein wichtiger Knotenpunkt der südlichen Seidenstrasse.
Dali liegt inmitten üppiger Natur. Der Regen während der Sommermonate sorgt für sattes Grün. Überall spriesst es, viele Strassen sind gesäumt von Bäumen. Umgeben ist die Stadt von Reis- und Gemüsefeldern sowie Teeplantagen; dazwischen liegt der riesige Er-Hai-See, und im Hintergrund thront stets das Cangshan-Gebirge mit Gipfeln bis zu 4000 Metern. Es ist auch diese Kombination aus vielseitiger Natur und malerischer Architektur, die dazu geführt hat, dass junge und ältere Chinesinnen und Chinesen auf der Suche nach einem Leben jenseits von Karriere, Kommerz und Geldverdienen aus den grossen Städten nach Dali kommen. In den vergangenen Jahren ist der Ort ausserdem zum Anziehungspunkt für Maler, Musiker und Schreiber geworden.
Mehr als vier Jahrzehnte nach Beginn der Wirtschaftsreformen, die einen beispiellosen Boom auslösten und viele Chinesen reich gemacht haben, stellen sich immer mehr Menschen die Frage nach einem Lebensinhalt, der über lange Arbeitszeiten und ein gefülltes Bankkonto hinausgeht.
Fang Le vermisst ihr altes Leben nicht. In Peking hat sie oft bis spätabends gearbeitet. Danach zog sie noch mit Freunden durchs Nachtleben. «Peking war immer stressig, ich habe viel zu wenig geschlafen», sagt sie. Fang Le hat noch einige Freundinnen und Freunde in der Hauptstadt, doch sie fährt nicht mehr hin. Fang Le sagt: «Die haben sowieso nie Zeit.»
Doch die Chinesin hat in Dali noch etwas anderes gefunden. Fang Le hat eine neunjährige Tochter, die nicht etwa in eine öffentliche chinesische Schule geht. Vielmehr besucht sie eine Art privater Alternativ-Schule, vom Konzept her der deutschen Waldorf-Schule ähnlich. Mittwochs findet beispielsweise kein Unterricht statt, denn da machen die Schüler eine ausgedehnte Velotour von mindestens 20 Kilometern. Die Kinder erkunden Dalis Tier- und Pflanzenwelt. Peking ist hier sehr weit weg.
Vom traditionellen chinesischen Bildungssystem hält Fang Le nicht viel. Denn das lehre ausschliesslich Unterordnung und Anpassung. «Meine Tochter soll lernen, auch einmal zu widersprechen und ihre Meinung zu vertreten», sagt Fang Le und fügt hinzu: «Natürlich muss sie diese gut begründen können.» Zuvor besuchte das Mädchen eine reguläre chinesische Schule. Der Druck sei enorm gewesen. «Es ging nur um Noten», sagt Fang Le.
Journalist wird Tee-Experte
Über die Schule lernte Fang Le auch Wang Bo kennen. Seine Tochter besucht dieselbe Klasse wie ihre Tochter. Auch er lebte früher in Peking. Auch er führte ein hektisches Leben. Wang war Journalist. Er arbeitete viel, war oft unterwegs. «Es war nur Stress», sagt Wang. Jetzt beschäftigt er sich mit Tee und lebt ein deutlich ausgeglicheneres Leben. Für grosse Firmen prüft Wang die Qualität der Pflanzen. Oft streift er stundenlang durch die Teeplantagen Yunnans. Wang kann ausschweifend über die unterschiedlichen Verarbeitungsprozesse von grünem, schwarzem und Pu-Erh-Tee erzählen.
Für seine Tochter wünscht er sich ebenfalls Gelassenheit und Ausgeglichenheit. Wang kennt Kinder, bei denen der Druck in den öffentlichen chinesischen Schulen zu Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen geführt hat. Für Wang spielen die Schulnoten eine zweitrangige Rolle. Er sagt: «Jeder Mensch hat seine eigenen besonderen Fähigkeiten. Die gilt es zu fördern.»
Vielleicht ist Dali auch so etwas wie ein Rückzugsort für Chinas Rebellen. Ein anderer Journalist, der kürzlich seinen Job in Peking an den Nagel hängte, seine Wohnung dort aufgab und jetzt in Dali lebt, sagt: «Das hier ist nicht China, deshalb bin ich hier.»
Vier Jahre lang nichts tun
Wer von Dalis Altstadt den Weg Richtung Osten zum Er-Hai-See nimmt, findet sich bald zwischen Wiesen und Gemüseäckern wieder. Auf der rechten Seite des Weges befindet sich eine grosszügig angelegte Farm. In einem Gehege gleich hinter dem Eingang laufen Hühner herum. Weiter hinten wachsen verschiedene Gemüsesorten, Zitronen und Kräuter wie Thymian und Rosmarin. In der Mitte auf einer Wiese steht eine kräftig gewachsene weisse Ziege. Xiao Li, die Besitzerin des Hofs, hockt daneben und melkt das Tier. Am Ende wird sie rund eineinhalb Liter Ziegenmilch in ihrem Eimer haben. Damit bereitet sie ein köstliches Joghurt zu.
Für die 37-jährige Xiao Li war es ein weiter Weg bis zur Farmerin in Yunnan. In Peking besuchte sie eine der besten Design-Hochschulen Chinas. Doch im Jahr 2006 brach sie das Studium ab. «Ich wollte etwas Praktisches machen», erzählt Xiao Li, während sie in ihrem Farmhaus Joghurt und getrocknete Apfelschnitze serviert. Schliesslich gründete sie in Peking eine Firma, die sich auf das Design von Körperschmuck und Kleidung spezialisierte. Xiao Li hatte wirtschaftlich Erfolg, doch glücklich wurde sie damit nicht. Drei Jahre später verkaufte sie das Unternehmen.
«Ich wusste einfach nicht mehr, was ich machen sollte», erzählt Xiao Li. Schliesslich zog sie nach Dali und machte erst einmal – nichts. Vier Jahre lang genoss sie das Leben in der Natur Südchinas und verbrachte viel Zeit mit Spaziergängen, Kaffeetrinken, aber auch Nachdenken. Während ihrer Jahre in Peking hatte sie viel gearbeitet und noch mehr gegessen. Ihre Mutter habe sie ständig mit «Energie-Nachschub» versorgt, erzählt sie. Vor allem Fleisch habe auf dem Speiseplan gestanden, mit bewusster und gesunder Ernährung habe das wenig zu tun gehabt. Xiao Li dachte in Dali mehr und mehr über gesunde Ernährung nach. Sie wollte bewusster leben.
Im Jahr 2013 begann sie, eine Farm zu bauen. Für das Stück Land vor den Toren der Altstadt zahlt sie eine jährliche Pacht in Höhe von umgerechnet 1700 Franken. Ein Freund half ihr beim Bau des Hauses. Als Material verwendeten sie vor allem das, was auf anderen Baustellen weggeworfen wurde. Die erste Zeit las Xiao Li abends im Kerzenschein und wärmte sich an einem Feuer. Erst vor wenigen Jahren wurde ihr Hof ans öffentliche Stromnetz angeschlossen.
Gesunde Ernährung ist wichtig
Von Schweinezucht über den Gemüseanbau bis zur Milchverarbeitung brachte sich Xiao Li alles selbst bei. Sie las viel und war schliesslich mehr und mehr fasziniert, «Lebensmitteln bei der Entstehung zuzuschauen», wie sie es beschreibt. Zwischen ihrer jetzigen Tätigkeit und ihrer früheren Arbeit in Peking zieht sie Parallelen: «Körperschmuck und schöne Kleidung sollen ja auch dazu dienen, dass sich der Mensch in seinem Körper wohl fühlt», sagt Xiao Li. Eine gute Ernährung habe im Grunde das gleiche Ziel.
Mit zunehmendem Wohlstand messen Chinesinnen und Chinesen einer gesunden Ernährung eine immer grössere Bedeutung bei. Ihre organisch hergestellten Lebensmittel verkauft Xiao Li inzwischen in ganz China. Zurück in die Grossstadt zieht es die Chinesin nicht mehr. «Dali ist meine Heimat», sagt sie. Sie hat noch immer Freundinnen und Freunde in Peking. Doch wie Fang Le besucht sie diese nicht. «Die kommen zu mir auf die Farm, weil sie es hier schön finden», sagt Xiao Li.
(https://epaper.nzz.ch/article/783/783/2022-01-17/7/299024811)