Russlands eurasische Zukunft

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Russland integriert sich in Eurasien. Es zu isolieren ist ein absurder Gedanke.

Russlands groß-eurasische Strategie macht seine Eindämmung unmöglich. Zu diesem Schluss muss eigentlich jeder kommen, der sich nicht ausschließlich von der Meinung westlicher Politiker und Medienvertreter über Russland leiten lässt. Schaut man sich stattdessen die maßgeblichen strategischen Konzepte an, ergibt sich ein ganz anderes Bild. Für viele im Westen wäre es ein erheblicher Schock, wenn man sich des Ausmaßes der Selbsttäuschung bewusst würde, aber die Realität ist nun einmal die Realität.

Der Programmdirektor des Waldai-Diskussionsclubs, Timofei Bordachev, hat kürzlich einen aufrüttelnden Strategiebericht verfasst. Darin geht es um die Bedeutung der strategischen Ausrichtung Russlands beim Aufbau einer groß-eurasischen Partnerschaft. BRICS plus spielt dabei ebenfalls eine zentrale Rolle. Russland hat seit dem 1. Januar dieses Jahres bekanntermaßen den Vorsitz der BRICS-Gruppe inne. Höhepunkt wird das Treffen der Staats- und Regierungschefs im Oktober in der tatarischen Hauptstadt Kasan sein. Dem Waldai-Diskussionsclub gehören übrigens mehr als 1000 Vertreter der internationalen Wissenschaft aus 85 Ländern an. Die USA sind ebenso präsent wie Ägypten, Iran, China, Japan, Israel, Großbritannien und Frankreich.

“Schließlich befindet sich Russland bereits im Zentrum eines ganzen Systems internationaler Institutionen und Partnerschaften, von denen jede ihren eigenen Charakter hat, der der zukünftigen internationalen Ordnung innewohnt, nicht der vergangenen.” (Timofei Bordachev)

Bordachev argumentiert, dass Russlands Strategie, sich nach Eurasien und darüber hinaus zu orientieren, völlig unabhängig vom Verhalten des Westens sei, insbesondere natürlich in der Ukraine-Krise. Die Strategie, die sich “Greater Eurasia” nennt, nutzt die Vorteile der geostrategischen Lage Russlands, um weitreichende internationale Partnerschaften in Wirtschaft, Diplomatie, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft aufzubauen. Die Vereinigten Staaten von Amerika und Europa, so beschreibt Bordachev, seien dagegen eher relativ isoliert. Das betrifft ihre geografische Lage, denn die USA liegen zwischen Pazifik und Atlantik, während Europa an den nordwestlichen Rand des eurasischen Kontinents gedrängt ist. Es betrifft aber auch die abnehmende Bedeutung und Glaubwürdigkeit des Westens in der multilateralen und bilateralen Vernetzung.

(Quelle: Screenshot, https://russiancouncil.ru/en/analytics-and-comments/comments/russia-greater-eurasia-and-modern-international-politics/?sphrase_id=131825057)

Die Zusammenarbeit im groß-eurasischen Raum schaffe den Rahmen für eine neue internationale Ordnung, deren zentrale politische Plattformen die BRICS seien, deren Erweiterung, so Bordachev, das wichtigste internationale Ereignis des Jahres 2023 gewesen sei. Die russische Führung werde sich voll auf die Entwicklung der BRICS und die Stärkung der internationalen Zusammenarbeit im groß-eurasischen Raum konzentrieren. Natürlich werde die militärische Stärke der USA gegenüber der großen Mehrheit nicht außer Acht gelassen, aber ein Angriff auf Mitglieder dieser groß-eurasischen Partnerschaft, etwa auf den Iran, hätte eine entsprechend heftige Gegenreaktion zur Folge, kalkuliert Bordachev.

Die Entscheidungen und Reaktionen der BRICS-Staaten bzw. der groß-eurasischen Partnerschaft werden zwar nicht zentral gesteuert, aber, so Bordachev, das Selbstverständnis der Staaten, die die Mehrheit in der Welt bilden, beruhe auf dem Recht, unabhängige Entscheidungen zu treffen. Der Begriff “Weltmehrheit” oder “World Majority” ist ein wichtiger Begriff im Vokabular eurasischer Intellektueller. Im Westen spielt er allerdings kaum eine Rolle, sieht man sich doch nach wie vor als das Maß aller Dinge.

Aufgrund seiner besonderen geografischen Lage sei Russland in den meisten regionalen Foren und Formaten präsent, und auch der Kooperationsprozess zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und China, das insbesondere seine Belt and Road Initiative vorantreibe, schreite voran. Generell, so Bordachev, biete der Reichtum an Interaktionen zwischen den Ländern des Großraums Eurasien eine enorme Anzahl an vielversprechenden außenpolitischen Feldern. All dies sei nicht durch ein Ursache-Wirkungs-Scharnier mit dem Verhalten des Westens verbunden, sondern der Prozess sei eigenständig und entwickle eine unabhängige Dynamik.

Einer der profiliertesten Befürworter der Hinwendung Russlands zu Eurasien ist Professor Sergej Karaganow. Er proklamiert die Sibirisierung Russlands. Würde Peter der Große heute leben, so Karaganow, würde er eine neue Hauptstadt gründen, diesmal in Sibirien. Für Karaganow, Dekan der Fakultät für Weltpolitik an der russischen Eliteuniversität HSE, bedeutet das allerdings keine Abkehr vom westlichen Erbe. Dennoch sieht er die dreihundertjährige Aneignung der europäischen Kultur durch die russische als einen abgeschlossenen Prozess. Heute ist es Russland, sagt Kaganow, das das Gute der europäischen Kultur bewahren will, während Europa selbst seine eigene Hochkultur immer weiter zerstört. Ohne den europäischen Einfluss wären Tolstoi, Puschkin, Gogol, Blok und viele andere Giganten der russischen Kulturgeschichte nicht möglich gewesen.

“Wäre Peter [der Große] heute am Leben, hätte er sicher eine neue Hauptstadt in Sibirien gegründet und das Fenster nach Asien stark erweitert. Neben Moskau und St. Petersburg braucht Russland dringend eine dritte, sibirische Hauptstadt.” (Sergej Karaganow)

Das dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, so Karaganow in einem weitsichtigen Grundsatzpapier, dass ein neues Kapitel in der Geschichte Russlands aufgeschlagen worden sei: die Entwicklung Sibiriens als Drehscheibe nach Osten. Sibirien verfüge über gigantische Rohstoffreserven, fruchtbares Land, Wälder, nahezu unbegrenzte Süßwasserressourcen. Dort könne man eine sibirische Maschinenbauindustrie auf moderner Basis aufbauen, neue Routen auf den Meridian-Linien sollten gebaut werden, der Nördliche Seeweg sollte Südsibirien mit China und Südostasien verbinden, die westsibirischen Regionen vor allem mit Indien, anderen Ländern Südasiens und dem Mittleren Osten. Eine der Achsen des internationalen Nord-Süd-Verkehrskorridors, der von St. Petersburg über den Iran bis an die Westküste Indiens führt, wird demnächst sogar fertiggestellt.

Karaganow plädiert für ein nationales Programm zur Entwicklung von Oststudien, einschließlich der Kenntnis orientalischer Sprachen, Völker und Kulturen an russischen Schulen: Das kulturell und religiös offene Russland habe einen gigantischen Wettbewerbsvorteil. Im Gegensatz zu den Europäern habe die sibirische Kultur den Osten nie unterworfen oder versklavt. So wie Alexander der Große, Galilei, Dante, Machiavelli oder Goethe in den kulturellen Schatz Russlands eingegangen seien, müssten in Zukunft Sun Tzu, Konfuzius, Tagore, Al-Kwarizmi, Ibn Sina und andere östliche Genies in den Kanon der russischen Kultur aufgenommen werden.

Diese Wendung nach Osten ist wahrscheinlich eine der wichtigsten Weichenstellungen auf dem Weg zu einer wirklich multipolaren Welt. Wenn das Projekt gelingt, ohne dass der untergehende Westen einen dritten Weltkrieg anzettelt, dann ist Groß-Eurasien ein riesiges Betätigungsfeld für den Aufbau von Infrastruktur, Industriezentren, Kulturmetropolen und für den Dialog der klassischen Kulturen und gebildeten Völker.

Quellen & Links:

https://russiancouncil.ru/en/analytics-and-comments/comments/russia-greater-eurasia-and-modern-international-politics/?sphrase_id=131825057

https://geopolitics.co/2024/01/04/russias-european-journey-is-over/

https://www.sott.net/article/488920-Sergey-Karaganov-Heres-why-Russia-must-permanently-abandon-Europe-and-turn-fully-to-Asia