Sommers Untergangsphantasien über China

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Es ist in bestimmten westlichen Kreisen derart populär, Chinas Zusammenbruch vorauszusagen, dass man schon keinerlei Scham mehr empfindet, wenn alle bisher dafür aufgebrachten Argumente ins Leere gegangen sind. Auch der Buchautor Theo Sommer[1] mischt(e) eifrig mit bei dem Ratespiel, wann und worüber das Reich der Mitte schließlich doch stolpern müsse, um am Ende doch der Überlegenheit des westlichen Systems zu weichen.

Es gibt eine Reihe von Büchern über Chinas Zusammenbruch seit 1949. Theo Sommer ist nicht der erste Autor zu diesem Thema.

In einer Kolumne für das Wochenmagazin Die Zeit vom 2. Februar 2021[2] machte er auf seine Bilanz erneut aufmerksam, die er in seinem Buch „China First: Die Welt auf dem Weg ins chinesische Jahrhundert“ aus dem Jahr 2019 zusammengetragen hatte. Er habe darin „die Schwächen des totalitären Regimes und die inneren Probleme des Landes“ aufgelistet: „Überschuldung, Überalterung, Umweltverseuchung, wachsende soziale Ungerechtigkeit“, und zudem noch das Einkommensgefälle zwischen der  Stadt- und Landbevölkerung, neben den Problemen der Wanderarbeiter.

Nicht, weil die Realität dafürspricht, hielten und halten so viele Meinungserzeuger im Westen an der Linie fest, Chinas Wirtschaft oder Gesellschaftsgefüge, oder beides, müsse letztlich doch in sich zusammenfallen; es war und ist ein ideologisches Axiom. Die Tatsache, dass China in puncto Armutsbekämpfung, Bildung, Infrastrukturbau, Digitalisierung, Energieerzeugung, Raumfahrttechnik, Welthandel und moderner Industrie seit vier Jahrzehnten unbeirrt Fortschritte macht, so dass selbst westliche Länder teils nur noch mit heruntergeklappter Kinnlade hinterherschauen, passt nicht ins „Narrativ“ all jener Untergangspropheten.

Vielleicht wäre es das letzte Legend-Werk von Theo Sommer

Kein Siegeszug des Liberalismus

Auch wenn University of Stanfords Star unter den Politikwissenschaftlern, Prof. Francis Fukuyama, heute nicht mehr vorbehaltlos bejubelt wird, so war es doch auch sein im Sommer 1989 erschienener Artikel – der dann zu einem Buch verarbeitet wurde – mit dem Titel “Das Ende der Geschichte?”, mit dem das ideologische Fundament für diese Weltsicht gegossen wurde. So sagte Fukuyama damals: „Was wir möglicherweise erleben, ist nicht nur das Ende des Kalten Krieges oder das Ende einer bestimmten Periode der Nachkriegsgeschichte, sondern das Ende der Geschichte als solcher: das heißt, der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als endgültige Form der menschlichen Regierung.“

Nun ist dieser vermeintlich ultimative Siegeszug der liberalen Demokratie nicht eingetreten. Im Gegenteil, erzeugt dieses „überlegene“ System selbst doch Finanzchaos, Rezessionen, Schuldenprobleme, innenpolitische Polarisierungen. Im Übrigen hat der Westen hat keinen brauchbaren Lösungsvorschlag gemacht, wie die von ihm verursachte globale Krise überwunden werden kann. Es waren Leute wie Theo Sommer und das übrige Heer an Artikelschreibern, die sich stattdessen offenbar verpflichtet fühlen, für die ideologische Verteidigung der westlich liberalen Sache den Füllfederhalter zu schwingen, und zwar so, dass jeglicher alternativer Pol auf diesem Planeten, vor allem das China-Modell, möglichst stark in Misskredit gebracht werden sollte. Dazu gehört mittlerweile vor allem der Urheber der Neuen Seidenstraße, Chinas Präsident Xi Jinping, der in westlichen Massenmedien zum neuen Dämon aufgebaut wird. Statt den Erfolg Chinas auf analytische Weise zu erklären und Schlüsse daraus zu ziehen, hat man im Handumdrehen ein neues Feindbild als Referenzrahmen geschaffen.

Ein Kübel Verleumdungen

Um in diesem Hauptstrom mitzuschwimmen, musste auch Herr Sommer einen Zahn zulegen. In seinem Zeit-Artikel drängt er in rund zehn Zeilen so ziemlich alles zusammen, wofür die BBC und hunderte liberale Think-Tanks Jahre gebraucht haben, um es in der westlichen öffentlichen Meinung als nicht hinterfragbar zu verankern: Unterdrückung in Hongkong und Repression der Uiguren, Bedrohung Taiwans, Militarisierung des Südchinesischen und Ostchinesischen Meeres, Grenzkonflikte mit Indien, Einflussgewinnung durch die Neue Seidenstraße, Ausbeutung der Pandemie für Chinas Renommee. Und das alles wird mit der erneuten Andeutung gekrönt, dass Chinas „Gefolgschaft“ wackele, ein „Rückstoß“ zu erwarten sei, und kritische Haltungen und sogar Gegenwehr im Vormarsch seien. Um auf die Haltlosigkeit all dieser Behauptungen einzugehen, bräuchte es etwas mehr Raum, als an dieser Stelle zur Verfügung steht. Die Tatsache, dass China ständig neue Partner für seine Seidenstraßeninitiative gewinnt, als Lieferant für Impfstoffe und medizinische Ausrüstung äußerst begehrt ist, und dass Chinas Wirtschaft als (fast) einzige im Pandemiejahr 2020 gewachsen ist, und die Bevölkerung sich vom gesteckten Ziel, bis 2049 ein voll entwickeltes Land zu sein, nicht abbringen lässt, sprechen jedoch eine andere Sprache.

Night View of SHANGHAI, CHINA

2100 kollabiert China?

Deshalb hat Theo Sommer nun eine weitere „Achillesferse“ Chinas entdeckt, bzw. hat er eigentlich eine Story des äußerst China-kritischen Journalisten Frank Chen übernommen, die Mitte Januar 2021 bei der Asia Times veröffentlicht wurde[3]. Im Jahr 2100 soll demnach endlich der offenbar ersehnte Zeitpunkt gekommen sein, an dem China zum „kranken Mann Asiens“ geworden sein wird. Eine demographische Prognose sagt demnach voraus, dass China seinen Zenit mit 1,44 Milliarden Menschen im Jahr 2029 erreichen wird, um anschließend einen „unaufhaltsamen Abstieg“ zu erleben, der einem „Kampf auf Leben und Tod“ gleicht, so Chen. Die Geburtenraten würden dann weiter stetig fallen und gleichzeitig ein „Renten-Tsunami“ die öffentlichen Kassen sprengen. Dass die über drei Jahrzehnte praktizierte Ein-Kind-Politik Chinas (1979-2016) Auswirkungen zeigt, die von der Politik angegangen werden müssen, steht außer Frage. Jedoch sollte man derartigen Fiasko-Szenarien von Statistikern nie absoluten Glauben schenken.

Entwicklung der digitalen Landwirtschaft, AI im Einsatz in Xinjiang

Grundlage für Chens, und damit auch Sommers, Artikel ist wiederum eine bereits im Juli 2020 herausgebrachte, von der Bill & Melinda Gates Stiftung finanzierte Studie, die in der Britischen Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde.[4] Das Magazin Forbes hatte gleich im Anschluss eine Kolumne[5] veröffentlicht, bei der Autor Stuart Anderson, die Lancet-Studie zitierend, den Absturz der chinesischen Bevölkerung auf 732 Millionen bis zum Jahr 2100 konstatierte, während die USA im selben Zeitraum, falls eine aktive Einwanderungspolitik betrieben würde, von 325 Millionen auf 336 Millionen leicht anwachsen werde, auf trotzdem noch nicht einmal die hälfte der prognostizierten Bevölkerung Chinas.

Innovation bestimmt Bevölkerungspotenzial

Die von 24 Autoren ausgearbeitete demographische Studie erwähnt übrigens mit keinem Wort die unausweichliche Zwangsläufigkeit einer solchen Entwicklung. Im Gegenteil, denn die „Szenarioanalysen haben gezeigt, dass für kein Land oder Gebiet die demografische Zukunft in Stein gemeißelt ist. Politische Maßnahmen, die Länder heute ergreifen, können den Verlauf von Fertilität, Mortalität und Migration verändern. Die Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung sind keine exogenen Faktoren, die die Länder bei ihrer Planung berücksichtigen müssen, sondern vielmehr Ergebnisse, die sie mitbestimmen können.“ Es sind also keinen von außen (exogen) auf die Staaten einwirkenden, unabänderlichen Faktoren, die die Entwicklung bestimmen, sondern es sind Richtungsentscheidungen eines politischen Gesellschaftssystems, die die Zukunft bestimmen, so geben es die Autoren der Studie offen zu. Und in diesem Sinne hat China derzeit deutlich mehr Spielraum, als viele westliche Staaten.

Moschee-Gebäude in Xinjiang. Integration und Entwicklung der Religion und Morderne in das Realleben als Zusammenhalt der 56 Nationen Chinas.

Der wichtigste Grund dafür ist der Fokus auf technologische Innovation bzw. auf einen Sprung in höhere „Energieflussdichten“. China hat erst vor kurzem seinen vollständig aus eigener Produktion hergestellten Kernreaktor „Hualong One“ ans Netz gebracht; es will bis 2035 einen industriegerechten Fusionsreaktor erbaut haben; und der Prototyp eines über 600 km/h schnellen Magnetschwebezuges wird bereits für die Serienfertigung erprobt. Sprich: es gibt wenige Länder, die so zukunftsorientiert in puncto Technologie und Forschung sind wie China. Warum das wichtig ist? Man muss schon sehr naiv sein, um nicht den physikalischen Zusammenhang zwischen solch einer technologischen Innovation und dem Bevölkerungsdichtepotenzial zu kennen. Ein leicht zu verstehendes Beispiel ist Deutschland selbst. Während wir im Jahr 1871 nur 41 Mio. Einwohner hatten, waren es 1910 bereits 65 Mio., eine gigantische Steigerung in so kurzer Zeit, als Folge der industriellen Revolution, die durch Entdeckung der Elektrizität, fossiler Brennstoffe und der neuen Generation von Maschinen möglich geworden war. Während große Teile des Westens sich heute allerdings auf Schmusekurs mit den radikalsten Forderungen der „vergrünten“ Elite befindet, die ein schnelles Ende des Industriezeitalters fordert, beschreitet China weiterhin den Weg der Modernisierung von Basisinfrastruktur, Produktion und Dienstleistungen. Als Folge dessen sind China durchschnittliche Lebenserwartung, Gesundheit, Bildungsgrad, Produktivität und Energieverbrauch bereits deutlich angewachsen.  

Wird also eher der Westen untergehen? Wahrscheinlich ja, wenn er einerseits nicht ablässt von dem unersprießlichen Wunsch, China und alle anderen, die nicht seine Ansichten teilen, müssten bekämpft werde; und wenn er weiterhin an seinem eigenen Ast sägt, indem er seine verbrieften Erfolgsrezepte aus den Wirtschaftswunderjahren über Bord wirft und stattdessen die Dogmen der fanatischsten Auswüchse des Neoliberalismus und Ökologismus aufrechterhält. Buchautor Theo Sommer, der Anlass zu den Ausführungen an dieser Stelle gab, ist sicherlich nicht der Urheber dieser augenscheinlichen Tragödie. Er ist lediglich einer der zahlreichen Meinungsfabrikanten, die in der Gunst des Augenblicks noch erfolgreich die Welle reiten, die der Anti-China Zeitgeist ihnen bietet. Doch irgendwann kommt der Augenblick, wo auch diese Welle abebbt und das Boot auf Sand läuft. Er ist bereits da.


[1] Theo Sommer: China First: Die Welt auf dem Weg ins chinesische Jahrhundert. Beck, 2019.

[2] https://www.zeit.de/politik/2021-02/china-xi-jinping-diktatur-bedrohung-bevoelkerung-rueckgang-5vor8

[3] https://asiatimes.com/2021/01/chinas-demographic-time-bomb-quickly-ticking-down/

[4] Stein, Goren, et al: Fertility, mortality, migration, and population scenarios for 195 countries and territories from 2017 to 2100: a forecasting analysis for the Global Burden of Disease Study. https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)30677-2/fulltext

[5] Stuart Anderson: China’s Population To Drop By Half, Immigration Helps U.S. Labor Force. https://www.forbes.com/sites/stuartanderson/2020/09/03/chinas-population-to-drop-by-half-immigration-helps-us-labor-force/?sh=6c08823e3d65