Gegen unsere Abhängigkeit von chemischen Mitteln?

EURASISCHE FASTENPHILOSOPHIE  

Ganzheitlich-integrative Medizin, die offen ist für asiatische Weisheit

Junk-Food, zu viele Medikamente, Stress, eine sitzende Lebensweise begünstigen Zivilisationskrankheiten: Diabetes, Krebs, Bluthochdruck … Fasten ist umstritten, ob zu therapeutischen Zwecken oder in der Entgiftung, aber in einer Überflussgesellschaft kann es doch willkommen sein. Eine Schweizer Ernährungsmedizinerin zieht Bilanz.

Als Ernährungswissenschaftlerin und Autorin zahlreicher Bücher über das Fasten spricht Françoise Wilhelmi de Toledo sich für eine „integrative“ Herangehensweise an das Fasten aus, die die Kenntnis der orientalischen Spiritualität in eine wissenschaftliche Vision einbezieht, die notwendig ist, um eine für jegliche Abweichungen offene Praxis zu gestalten. Als Ko-Direktorin der Buchinger-Fastenklinik am Bodensee in Überlingen und Marbella initiiert sie das Fasten in einem medizinischen Umfeld, aber offen für Kunst und Meditation. Vor allem wehrt sie sich gegen den „Krankheitsmarkt“, wie sie ihn nennt, der auf unserer Abhängigkeit von medizinischer Versorgung beruht.

LHCH: Das Fasten scheint zunächst einmal eine unnatürliche Praxis zu sein. Sind wir nicht seit Anbeginn der Zeit auf Nahrungssuche?

Françoise Wilhelmi de Toledo: In diesem Monat beginnt der Ramadan; diese uralte Praxis ist, wie die Fastenzeit, von der Wissenschaft lange ignoriert worden. Zu Unrecht. Gerade die Biologie ist es, die heute durch das Gedächtnis der DNA unsere Lebensweise in der Altsteinzeit versteht und sie unserem heutigen Leben gegenüberstellt. Unser Instinkt veranlasst uns seit Beginn der Evolution, so viel wie möglich zu essen, wenn genug da ist, um uns dank einer Vorratsstrategie auf Zeiten der Knappheit vorzubereiten. Jahreszeitliche Veränderungen, Wanderungsbewegungen – die Menschen mussten sich schon immer auf entbehrungsreiche Tage einstellen. Heute erleben wir diese periodische Nahrungsmittelknappheit nicht mehr, und zusätzlich haben wir uns eine sitzende Lebensweise angewöhnt, was es nicht besser macht. Unser Körper speichert unser Fett jedoch weiterhin auf natürliche Weise! Ganz zu schweigen vom Zucker und Alkohol, die zur Stressbewältigung eingesetzt werden. Fasten bedeutet also, die normale Physiologie eines Menschen wiederherzustellen, weil er dadurch die in sich angesammelten Fettreserven nutzen kann.

LHCH: Welche PatientInnenprofile behandeln Sie in Ihren Einrichtungen?

FWT: Es sind im Wesentlichen drei. Die Folgen „zu viel“: Übergewicht, Hypertonie, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen… Dazu kommen entzündliche Erkrankungen: Arthritis, Koliken und Gastritis. Zu dem allen gesellt sich noch der Burnout.

LHCH: Was läuft konkret beim Fasten im Körper ab?

FWT: Der Körper hat die Fähigkeit, sich an den Nahrungsmangel anzupassen, indem er auf seine Energiereserven zurückgreift. Zunächst nutzt er die Glukose und die aufgenommenen Nährstoffe. Dann greift er auf die Glykogenreserven in der Leber zurück, um rasch Glukose freizusetzen. Nach 16 Stunden Fasten ist das Glykogen in der Leber erschöpft. Der Körper beginnt dann, Fett abzubauen. Nach zwei, drei Tagen beschleunigt sich die Produktion von Ketonen – der einzigen Energiequelle, die das Gehirn in Abwesenheit von Glukose verbrauchen kann. Wenn die Lipidreserven (Fette) erschöpft sind, beginnt der Körper, entweder seine muskulären Aminosäuren oder seine Proteine zu mobilisieren, die er sogar aus den Knochen abzieht. Das ist die Neoglykogenese, die nach 40 Tagen sehr gefährlich ist … Fasten ist eine ernste Angelegenheit. Vorsicht vor Scharlatanen und persönlichen Erfahrungen, die zur Anorexie führen können!

LHCH: Führt die Entbehrung nicht zu einer Schwächung des Körpers?

FWT: Das Fasten bringt den Körper dazu, aus seinen eigenen Heilkräften zu schöpfen und damit seine Abwehrkräfte zu stärken. Der Begründer unserer Methode, Otto Buchinger, sprach von einem „Empowerment“ des Körpers. Der heutige Missbrauch von Impfstoffen und Antibiotika ist etwas anderes. Besonders im Zusammenhang mit chronischen Krankheiten! Durch das Fasten streben wir eine vorteilhafte metabolische und neurohormonelle Reaktion an: die Reserven werden mobilisiert, das Insulin sinkt, der Druck nimmt ab, überschüssiges Wasser wird ausgeschieden, usw., alles Reaktionen, die sich günstig auswirken. Der Arzt greift nicht im klinischen Sinne ein, sondern leitet Körper und Geist an, während sie wieder lernen, sich selbst zu verteidigen. Natürlich wird das Fasten bei fortgeschrittenem Krebs oder akuter Krankheit keinen direkten therapeutischen Nutzen haben!

LHCH: Wie sehen Ihre PatientInnen die Behandlung? Gibt es Widerstand?

FWT: Nicht unmittelbar, denn sie treten allmählich in das Fasten ein, dank Mono-Diät-Mahlzeiten, Tee, Brühen… Die Azidose-Phase, die nach 3 Tagen eintritt, kündigt den Beginn der Entgiftung des Körpers, aber auch der Übersäuerung des Blutes an. Es gibt unterschiedliche Behandlungsmöglichkeiten, um diese Phase, die dem eigentlichen Eintritt in die Fastenzeit, die manchmal 10 Tage bis zu einem Monat dauern kann, vorausgeht und medizinisch genau überwacht wird, abzumildern. Die PatientInnen lassen die produktive Welt, die Zeitpläne, den Druck hinter sich. Der Körper braucht viele Stunden nicht zu verdauen. Das Gehirn produziert sein eigenes Serotonin, das die Sensibilität für die Welt erhöht: Offenheit für das Lesen, die Natur, die Stille …

Kann das Fasten vielleicht dazu beitragen, all unsere sozialen Übel zu heilen?

FWT: Das Fasten hat auch auf der mentalen Ebene seine Grenzen. Es hat eine positive Wirkung auf Körper und Geist. Aber es kann die psychologische Betreuung nicht ersetzen, wenn die Probleme Stress, Alkohol, Überarbeitung, mangelnde Fähigkeit zum Glücklichsein sind. Wichtig ist es, dass die Ergebnisse des Fastens durch einen gesunden Lebensstil, eine gesunde Ernährung, Sport usw. stabilisiert werden. Ohne natürlich die Zeiten zu vergessen, in denen man sich loslöst, liest, meditiert, nachsinnt.

LHCH: Der ‚Krankheitsmarkt‘, wie Sie ihn nennen, ist Ihr Lieblingsärgernis.

FWT: Unsere Medizin umfasst Medizin, Chirurgie, Interventionen… Sie greift zu schnell zu schwerwiegenden Behandlungen; oft aus wirtschaftlichen Erwägungen… Aber Vorsicht, wir dürfen auch nicht in die Religion der alternativen Medizin verfallen … Ich bin inspiriert von der integrativen Medizin, von Meditation, Yoga, aber nichts, nichts kann die Kraft einer Diagnose ersetzen, die mit den hocheffizienten Instrumenten unserer westlichen Medizin erstellt wird.

LHCH: Das Fasten führt im Idealfall zu einer Art Naturmedizin in Verbindung mit einer anderen Lebensweise?

FWT: Ja. Selbst diejenigen, die diese Methode mit der größten Ablehnung betrachten, akzeptieren den präventiven Aspekt des Fastens, die Nutzung als begleitende Praxis zur die Behandlung chronischer Krankheiten, den Zugang zu einer anderen Lebensphilosophie, in der in einer Zivilisation des „Zuviel“ weniger besser ist.

(Quelle: suedkurier.de)