Ursula Stenzel (Foto: Franz Johann Morgenbesser / Wikimedia CC 2.0)

Warum ich dieses Themen aufgreife, ist einfach erklärt: als Europaabgeordnete war ich in Afghanistan und auch wenn dieser Besuch 2003 stattgefunden hat, brachte er Erkenntnisse, die bis heute Gültigkeit haben. In meinem Buch habe ich darüber geschrieben und den Bogen zur dramatischen Gegenwart gespannt: Ich war übrigens die erste österreichische Politikerin, die dem kleinen österreichischen Kontingent einen Besuch abstattete, das nun ebenfalls abzieht. Da die Teilnahme der Österreicher der Friedenserhaltung diente, war sie auch mit unserer Neutralität vereinbar. 

Schon damals hatte ich den Eindruck, dass die internationale Unterstützungstruppe hauptsächlich damit beschäftigt war, sich selbst zu schützen. Die Autorität der Regierung, sowohl der unter Präsident Karsai, als auch der unter seinem Nachfolger Ashraf Ghani endete an der Grenze Kabuls, eigentlich an der Grenze des Regierungsviertels. Wann die Hauptstadt fällt, ist heute nur mehr eine Frage der Zeit. Die Taktik der Taliban war es, durch Terroranschläge einmal im Süden, einmal im Norden, einmal in Kabul Omnipräsenz vorzutäuschen. Es war kein flächendeckender Krieg und ist es auch heute nicht. Allerdings wählen die Mudschaheddin ihre Ziele sehr bewusst aus. So ist ihnen nach neuesten Informationen die Eroberung Shebergans gelungen. Im Norden dieser Stadt in der Wüste Dasht i Lili hat einer der ehemaligen Warlords, den ich noch selbst kennenlernte, General Dostum, eines der größten Kriegsverbrechen zu verantworten: er soll 3000 Mudschaheddin in Container verfrachtet haben, um sie vermeintlich in ein Gefängnis zu transportieren. Seine Milizen setzten sie allerdings in Containern in der Wüste aus, wo sie elend zugrunde gingen. Menschenrechtsorganisationen sprachen schon während meines Aufenthaltes von 600 Personen, nach heutigen Erkenntnissen angeblich 3000, er selbst sprach von 200 und bestritt jede Verantwortung. Es sollten keine Gefangenen gemacht werden.

Man kann sich vorstellen, wie die Rache der Taliban heute gerade im Norden Afghanistans aussieht. General Dostum, noch unter der letzten gewählten Regierung Ashraf Ghani zu Marschallsehren gekommen, ist seines Lebens nicht sicher. Er hat zwischenzeitlich wie schon einmal Exil in der Türkei gesucht und ist nun nach dem Vormarsch der Taliban wieder in Kabul, um den militärischen Widerstand der bedrängten Regierung zu organisieren. Ihm könnte ein ähnliches Schicksal vor einem internationalen Kriegsverbrechertribunal blühen, wie Milosevic, Karadzic und Mladic – verurteilten Kriegsverbrechern des blutigen Zerfallsprozesses im ehemaligen Jugoslawien.

Der zweite ehemalige Kriegsherr, auch diesen lernte ich im Zuge der Fact Finding Mission 2003 persönlich kennen, war General Atta, ein Tadschike und erbitterter Feind Dostums. Schwer korrupt und mafios. Auch er wird mittlerweile das Weite gesucht haben. Der Mann ist aus anderen Gründen verhasst, wegen seiner Korruption und seiner mafiosen Praktiken. Als die Delegation des Europaparlaments, der ich angehörte, von ihm empfangen wurde, erfreute er sich bereits eines Swimmingpools und Fließwassers, ein unbeschreiblicher Luxus in dem vom Krieg zerstörten Land. Auch er wird mittlerweile das Weite gesucht haben.

Es ist gut, sich an die Genesis dieser Tragödie zu erinnern: am 9. September 2001 fiel General Ahmet Schah Massoud, ein Tadschike und Befehlshaber der mit amerikanischer Unterstützung siegreichen Nordfront, selbst gläubiger Muslim, einem Selbstmordanschlag der Taliban zum Opfer, zwei Tage danach kam es zu dem Terrorangriff, der unter der Chiffre 9/11 in die Geschichte einging. Vier Wochen später griffen die USA unter Präsident George W. Bush direkt in den Konflikt ein. Sie traten damit in die Fußstapfen der Sowjetunion, die zehn Jahre lang in Afghanistan ihr „Vietnam erlebt hat“, bis Präsident Gorbatschow 1989 dem Spuk ein Ende setzte. In das Vakuum, das sie hinterließen, stolperten die USA und ihre Nato-Verbündeten.

Das Ende des westlichen Engagements, das bereits eine Fluchtwelle ausgelöst hat, die auch Europa erreichen wird, löst jetzt in Russland Besorgnis aus. Gemeinsam mit Usbekistan und Tadschikistan werden trilaterale Manöver abgehalten. Was diese Staaten der ehemaligen Nordfront ebenso wie Russland nicht wollen, ist ein Übergreifen der radikalen Islam auf ihr Territorium. Genau das geschieht jetzt und zwar trotz oder wegen der trilateralen Militärmanöver Russlands mit Usbekistan und Tadschikistan an der Nordgrenze zu Afghanistan.

Der Westen, inklusive die Europäische Union, aber vor allem die USA haben in Afghanistan versagt, es ist ihnen nicht gelungen aus einem zerfallenden Staat einen gefestigten, demokratisch legitimierten Gesamtstaat zu machen. Die Hilfe zur Selbsthilfe war zu wenig, der militärische Einsatz halbherzig und widersprüchlich, vor allem war die Hilfe fragmentiert. Jedes Land hatte eine eigene Aufgabe, die einen schulten die Verwaltung, die anderen die Polizei, die Dritten die Militärs, in der Realität hatte die Zentralregierung nie eine Autorität über das ganze Land, das entweder der Einschüchterung und dem Scharia – Terror der militanten Islamisten, zum Opfer fiel, oder in ihnen nicht zuletzt wegen der grassierenden Korruption das geringere Übel sah.

Biden ist mit dem Anspruch angetreten, aus dem Dauerkonflikt dieses zerfallenden Staates auszusteigen. Er will sich auf das Wesentliche konzentrieren, auf China, dessen Aufstieg zur Großmacht Nr.1er vereiteln will. Da ist Afghanistan nur ein Nebenschauplatz. Mit den Folgeproblemen, einer unkontrollierbaren Fluchtbewegung, eines Erstarken des militanten Islam werden sich die Fluchtburgen  Europas herumschlagen müssen: Deutschland, die skandinavischen Staaten und das kleine Österreich, wie die gesamte EU, geschwächt durch die Kollateralschäden der Corona-Krise und der Unfähigkeit und Unwilligkeit der EU die Grenzen zu schließen und zu verteidigen.

(Quelle: https://unser-mitteleuropa.com/afghanistan-versagen-der-usa/)