Deutschland hat gewählt und wird eine neue Bundesregierung bekommen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel geht nach 16 Jahren an der Regierungsspitze in den politischen Ruhestand.
Die ganze Welt fragt sich nun, wie die nachfolgende Regierung die auswärtigen Beziehungen Deutschlands gestalten wird, allen voran diejenigen zu ihrem wichtigsten Handelspartner China. Um es vorwegzunehmen: die Zeiten werden allem Anschein nach komplizierter werden, und die für Merkel typische Sachlichkeit und relative Ausgeglichenheit könnte einer ideologischeren Sicht und Rhetorik gegenüber China weichen. Das zeigt sich vor allem in den Wahlprogrammen, die als Leitlinien gelesen werden können, aber auch in diversen öffentlichen Äußerungen der drei zur Wahl angetretenen Kanzlerkandidaten.
Baerbocks harte Linie
Annalena Baerbock von der Partei Die Grünen kann zwar trotz ihres Stimmenzuwachses auf über 14% nicht Kanzlerin werden. Sie und andere Mitglieder ihrer Partei würden im Falle einer Regierungsbeteiligung möglicherweise jedoch leitende Funktionen bei der deutschen Außenpolitik erfüllen.
Das wäre nicht ohne Brisanz. Frau Baerbock hat sich bereits für harsche Maßnahmen gegen China ausgesprochen. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 24. April 2021 bezeichnete sie das Projekt der Neuen Seidenstraße als „knallharte Machtpolitik“ und forderte, dass die liberalen Demokratien China mit einer Mischung aus „Dialog und Härte“ gegenübertreten müssten.
Drei Tage vor der Bundestagswahl, am 23. September, als die Spitzenkandidaten erneut ihre wichtigsten Aussagen in einer TV-Runde präsentieren sollten, bekräftigte Baerbock, dass sie sich in völliger Übereinstimmung mit der Initiative des US-Präsidenten befinde, eine Allianz der Demokratien gegen die „autokratischen Kräfte China und Russland“ zu bilden. Sie bestand ebenso darauf, dass der Ratifizierungsprozess des Investitionsabkommen (Comprehensive Agreement on Investment) zwischen China und der Europäischen Union beendet werden solle. Dieses Abkommen ist bereits durch einen Beschluss des Europäischen Parlamentes auf Eis gelegt worden, nicht zuletzt auf besonderen Druck von Baerbocks grünem Parteigenossen Reinhard Bütikofer, der als EU-Abgeordneter gerne seine besonders aggressive Anti-China Haltung zur Schau stellt.
Und auch im Wahlprogramm der Grünen werden ohne Beweise die Desinformationskampagnen transatlantischer Denkfabriken reproduziert. So verlangt man beispielsweise von China „ein Ende seiner eklatanten Menschenrechtsverletzungen, etwa in Xinjiang und Tibet und zunehmend auch in Hongkong.“[1] Über die Unterstützung des EU-Lieferkettengesetzes will man zudem solchen Waren den Zugang zum europäischen Binnenmarkt verwehren, die nach Ansicht der Grünen „aus Zwangsarbeit“ stammen. Deutschland solle sich, so heißt es weiter, für eine „Fact-Finding-Mission zu Xinjiang im Rahmen des UN-Menschenrechtsrats einsetzen und die Unterdrückung der Uiguren als Völkerstraftaten bezeichnen.“ Wo liegt da der Unterschied zu den radikalsten Positionen US-Amerikanischer und Britisch-rechtskonservativer Politiker, die insbesondere unter dem Banner „Amerika First“ und „Global Britain“ eine demagogische Schlammschlacht gegen China losgetreten haben?
Scholz im Schlingerkurs
Betrachtet man den Kandidaten der Sozialdemokratischen Partei (SPD), Olaf Scholz, der durch das äußerst knappe Erringen der meisten Wahlstimmen am ehesten das Amt des Regierungschefs übernehmen wird, dann findet man zwar keineswegs eine so hetzerische Wortwahl wie bei Baerbock und den Grünen. Dennoch ist die vorbehaltslose Solidarität zum transatlantischen Bündnis und zur NATO eine unverrückbare Grundposition von Scholz. Da er zudem die Grünen in eine Koalitionsregierung einbinden will, vergrößert sich die Gefahr einer konfrontativeren Haltung gegenüber China weiterhin. Auch wenn die egoistische Haltung der USA beim Afghanistanabzug und bei der Bildung des neuen Militärpakts mit Großbritannien und Australien (AUKUS) für schlechte Stimmung in Europa sorgen, ist die grundlegende pro-USA Haltung von Scholz nicht wirklich erschüttert worden.
Als Olaf Scholz am 28. Juni bei der wichtigen deutschen Denkfabrik DGAP seine Leitlinien zur Außenpolitik vortrug[2], gab er Joe Bidens Politik seine volle Unterstützung, nämlich die Welt in zwei Blöcke aufzuteilen: die freien Demokratien auf der einen, und die diktatorischen Autokratien auf der anderen Seite. China sei für Deutschland zwar größter Handelspartner, gleichzeitig jedoch autoritärer Systemrivale, der den Westen spalten wolle und einer Renaissance des Großmachtdenkens verfallen sei.
In ihrem Wahlprogramm betont die SPD zwar, dass nur gemeinsam mit dem immer bedeutender werdenden Chinas Antworten auf die globalen Herausforderungen unserer Zeit gefunden werden können; doch wie soll das umgesetzt werden, wenn im selben Atemzug zunehmende Interessens- und Wertekonflikte konstatiert werden. Die eklatanten Widersprüche in der Argumentation treten vor allem in Formulierungen wie dieser zutage: „Europa muss den Dialog mit China über Kooperation und Wettbewerb geschlossen, konstruktiv und kritisch führen. Die gravierenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber Minderheiten, insbesondere uighurischen Muslimen, verurteilen wir. Für Honkong muss das international verbriefte Prinzip ‚Ein Land – zwei Systeme‘ gewahrt bleiben. Wir betrachten mit großer Sorge den wachsenden Druck auf Taiwan.“
Das Dilemma, in welchem sich Scholz und die SPD bei ihren außenpolitischen Positionen gegenüber China befinden, spiegelt wider, dass man einerseits zwar die deutschen Wirtschaftsbeziehungen zu China nicht beschädigen will, andererseits übernimmt man unhinterfragt die Rhetorik eines neuen Kalten Krieges, die amerikanische und britische Militär- und Sicherheitskreise als Druckmittel gegen Peking verwenden. Dieser Kniefall vor der PR-Macht Washingtons wirkt eher selbstdemütigend. Man kann nur hoffen, dass sich solche peinlichen Entgleisungen wie die des jetzigen deutschen Außenministers Heiko Maas (SPD), der am 9. September 2019 den mittlerweile verurteilten Hongkonger Separatistenführer Joshua Wong öffentlich unterstützte, nicht wiederholen. Auch sein Amtsvorgänger Sigmar Gabriel, ebenfalls Sozialdemokrat, stieß am 30. August 2017 die chinesische Regierung mit seinen Bemerkungen vor den Kopf, China beabsichtige, „Europa zu spalten“, indem es sich angeblich durch Investitionen in Europa chinafreundliche Stimmen kaufe.
Laschet will Systemrivalität
Und was ist mit Armin Laschet, dem Spitzenkandidaten aus Merkels eigener Partei, der Christlich Demokratischen Union (CDU)? Er landet aufgrund erheblicher Stimmenverluste knapp hinter Olaf Scholz. Wird er als Oppositionschef oder, im Falle einer erneuten Teilnahme der CDU an einer Regierungskoalition, bei Übernahme eines Ministerpostens die moderate Linie Merkels fortsetzen?
Merkel hatte stets betont, dass sie in einer multipolaren Welt agiere und sich nicht zwischen USA und China entscheiden wolle. In einer der wichtigsten Wirtschaftszeitungen Deutschlands, dem Handelsblatt, wurde Laschet am 16. September sogar direkt gefragt, ob er als Kanzler den moderaten Kurs von Bundeskanzlerin Angela Merkel fortführen würde, vor allem, da die EU eine neue China-Strategie ausarbeitet, die aller Wahrscheinlichkeit nach den mit den Sanktionen vom März dieses Jahres eingeschlagenen Konfrontationskurs eskalieren wird. Laschet beklagt in seiner Antwort angebliche Menschenrechtsverletzungen und den Mangel an Demokratie in China: „Das müssen und werden wir immer kritisieren.“
Gleichzeitig sei klar, dass ein „neuer kalter Krieg“ Deutschland „sehr schaden“ würde. Er verlangt mehr europäische Eigenständigkeit und weniger Abhängigkeit von China bei industrieller Produktion und technologischer Forschung. Das ist noch lange kein „Decoupling“ wie es einige Amerikaner wollen, aber es zeigt, dass auch in der CDU-Spitze das Konzept der Zusammenarbeit mit China zum wechselseitigen Nutzen beider Länder nicht wirklich vorangetrieben wird. Von einer Beteiligung an der Belt and Road Initiative (BRI) sieht Laschet offenbar ab und schlägt stattdessen vor: „Die Europäische Union muss selbst eine Seidenstraße erfinden. Sie muss Wege schaffen, wie wir aktiv unseren Weg in die Welt finden: rund um das Mittelmeer hin nach Afrika. Das nutzt Deutschland als Exportnation.“ Eigentlich müsste er wissen, dass die Europäische Union bislang nur Verlautbarungen produziert hat und ein europäisches Gegenstück zur BRI bisher nur auf dem Papier steht. Selbst die Außenhandelsagentur des Wirtschaftsministeriums musste in einem Schreiben vom 16.7. zugeben, dass die EU bei der Umsetzung ihrer Konnektivitätsstrategie „träge“ gewesen ist.[3]
Das CDU-Wahlprogramm ist mit Laschets öffentlichen Äußerungen größtenteils deckungsgleich. Jenem kann man entnehmen, dass von China die „größte außen- und sicherheitspolitische Herausforderung“ ausgehe, und dass man „Chinas Machtwillen in enger Abstimmung mit unseren transatlantischen Partnern und anderen gleichgesinnten Demokratien mit Stärke und Geschlossenheit entgegentreten“ müsse. Das Programm unterstützt eine europäische China-Strategie und fordert eine „kraftvolle Antwort auf globale Herausforderungen wie die Initiative Chinas zur Entwicklung einer neuen Seidenstraße“, zu der man „eine europäische Alternative“ bieten müsse.
Vorläufiger Ausblick
Das Wahlergebnis bei den 20. Deutschen Bundestagswahlen schafft keine eindeutigen Verhältnisse.
Die beiden großen Volksparteien, CDU und SPD, sind nahezu gleichauf. Die Grünen haben deutliche Stimmenzuwächse verzeichnen können und werden mit großer Wahrscheinlichkeit Regierungsämter übernehmen. In den kommenden Wochen werden die üblichen Gespräche zur Bildung einer Koalitionsregierung geführt werden. Was man aber aufgrund der außenpolitischen Äußerungen aller drei Kanzlerkandidaten konstatieren kann, ist, dass die Beziehungen zwischen China und Deutschland nicht leichter, sondern eher komplizierter werden. Sie werden möglicherweise sogar einigen Belastungsproben ausgesetzt sein, sollten die harten Positionen von Annalena Baerbock und anderer Grüner stärker in den Vordergrund treten.
Die Schwächung von Armin Laschet durch den signifikanten Stimmenverlust der CDU könnte ebenfalls Hardliner innerhalb der Partei dazu ermutigen, härtere Maßnahmen zu fordern, sollte Laschat moderate und ausbalancierende Töne gegenüber China anschlagen. Zu jenen gehört beispielsweise der außenpolitische Sprecher im Bundestag, Norbert Röttgen (CDU), der am 21. September im der Zeitung Wirtschaftswoche das amerikanische U-Boot-Geschäft mit Australien mit den Worten unterstützte: „Für die USA und Australien ist es von überragender strategischer Bedeutung, eine chinesische Dominanz auf der Basis maritimer militärischer Übermacht zu verhindern.“ Wahlkampfrhetorik und Wahlprogramme sind sicherlich nicht gleichzusetzen mit realer Regierungsführung und internationalen Verhandlungen, aber sie geben Anhaltspunkte, wie eine künftige deutsche Bundesregierung ihre ausländischen Beziehungen ausrichten könnte.
Leichter wird der Umgang mit Deutschland vermutlich nicht.
[1] https://cms.gruene.de/uploads/documents/Wahlprogramm-DIE-GRUENEN-Bundestagswahl-2021_barrierefrei.pdf
[2] https://dgap.org/de/veranstaltungen/olaf-scholz-aussen-und-sicherheitspolitische-positionen
[3] https://www.gtai.de/gtai-de/trade/specials/special/eu/eu-asien-konnektivitaetsstrategie-setzt-auf-nachhaltigkeit-599692