Nichts gelernt aus der Dreyfuss-Affäre

Die Wiederholung der Plattitüde, dass Demokratie von Transparenz und Rechenschaftspflicht abhänge, mag überflüssig erscheinen, doch wie oft wurde in jüngster Vergangenheit die demokratische Ordnung von unseren politischen Spitzen verraten? Wie oft schon haben Medien ihre Kontrollfunktion aufgegeben? Wie oft haben sie nur die Rolle der Echokammer für die Mächtigen von Regierungen und transnationalen Konzernen gespielt?

40 Rechtsgruppen fordern die Freilassung von Julian Assange  / Bild: https://www.ifj.org/media-centre/news/detail/category/press-releases/article/over-40-rights-groups-call-on-uk-to-free-julian-assange.html

Neben all den Skandalen und dem Verrat an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erleben wir die mediale Verfolgung unbequemer Journalisten durch Regierungen und ihre Vollstrecker. Das vielleicht skandalöseste und unmoralischste Beispiel multinational-korrumpierter Rechtsstaatlichkeit ist der „Rechtskrieg“, welcher gegen Julian Assange, den Gründer von Wikileaks, geführt wird. Im Jahr 2010 hat Assange Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit aufgedeckt, welche die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten in Afghanistan und im Irak begingen und in Erklärungsnotstand brachten.

In einer Welt von Rechtsstaatlichkeit, würden solche Kriegsverbrechen sofort untersucht und in entsprechenden Ländern zur Anklage gebracht haben. Aber nein – der Zorn der Regierungen und Medien trifft stattdessen denjenigen Journalisten, der es gewagt hatte, diese Verbrechen aufzudecken. Die Verfolgung von Assange stellt den konzertierten Angriff auf den Rechtsstaat durch die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Schweden und den Nachzügler Ecuador dar. Die Instrumentalisierung der Justiz – nicht um der Gerechtigkeit willen, sondern um einen Menschen zu vernichten – zog immer weitere Kreise einer gemeinschaftlich-kriminellen Verschwörung nach sich: mit Verleumdungen, aufgebauschten Anschuldigungen, Ermittlungen ohne Delikt, mutwilligen Verzögerungen und Vertuschungen.

Im April 2021 veröffentlichte mein Kollege, Professor Nils Melzer, der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, eine akribisch recherchierte und methodisch unangreifbare Dokumentation über diese schier unglaubliche Saga. Sein Buch Der Fall Julian Assange“ (Details dazu siehe unten) kann bestens als das J’accuse – unserer Zeit herhalten. Das Buch soll erinnern, wie die Behörden uns verrieten und wie vier Regierungen bei der Korrumpierung des Rechtsstaates kollaborierten. So wie Emile Zola im Jahr 1898 in Frankreich das Lügengeflecht rund um das skandalöse Gerichtsurteil gegen den französischen Oberst Alfred Dreyfuss aufdeckte, schockiert uns Nils Melzer 122 Jahre später mit dem Beweis, wie Länder, die sich angeblich der Rechtsstaatlichkeit und den Menschenrechten verpflichtet fühlen, mit Mainstream-Medien als ihre Komplizen das demokratische Ethos verraten. Melzer schreibt über „konkrete Beweise einer politischen Verfolgung, groben Willkür seitens des Justizapparats mit vorsätzlicher Folter und Misshandlung.“

Es ist ein enorm wichtiges Buch, weil es von uns verlangt, unsere „Komfortzone“ zu verlassen, um von unseren Regierungen Transparenz und Rechenschaftspflicht einzufordern. In der Tat ist es skandalös, dass keine der vier am Komplott beteiligten Regierungen mit Professor Melzer kooperierte, doch diese es vorzogen „politische Plattitüden“  abzusondern. Ich selbst erfuhr denselben Mangel an Kooperation von mächtigen Staaten, nachdem ich an diese Verbalnoten zu Menschenrechtsverletzungen sandte: Keiner der Staaten hat eine zufriedenstellende Antwort erlassen.

Melzer erinnert uns an Hans-Christian Andersens Fabel „Des Kaisers neue Kleider“. So halten alle am Assange-Komplott Beteiligten konsequent an ihrer Illusion der Legalität fest, doch wiederholen nur Unwahrheiten, bis ein Beobachter fragt: „Wo sind des Kaisers Kleider?“ Das ist der Punkt. Eine Justiz ohne Kleider verabsäumt sich der Gerechtigkeit zu verschreiben und nicht an der Verfolgung eines Journalisten zu beteiligen, mit allen Konsequenzen, die ein solches Verhalten für den Fortbestand der demokratischen Ordnung bedeutet.

Melzer überzeugt durch Fakten und zeigt, dass wir in einer Zeit der „Nach-Wahrheiten“ angekommen sind und es in unsere Verantwortung fällt, diese Situation jetzt zu bereinigen, bevor wir in einer Tyrannei aufwachen.

Professor Dr.iur. et phil. Alfred de Zayas ist Professor für Völkerrecht an der Genfer Schule für Diplomatie und war in hohen Funktionen für die Vereinten Nationen im Sekretariat für Menschenrechte tätig.

(Quelle: Die Verfolgung von Julian Assange | UNSER MITTELEUROPA (unser-mitteleuropa.com))