Ein großer Teil der westlichen Berichterstattung leidet stark unter der Unfähigkeit, den Kontext für die derzeit besonders starken Spannungen zwischen den USA und China korrekt darzustellen. Ein auffälliges Beispiel dafür ist die sogenannte „Taiwan-Frage“.

Der Tagesspiegel aus Berlin berichtete jüngst über den Online-Gipfel zwischen US-Präsident Joseph Biden und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping am 16. November. Darin hieß es zwar, Biden habe die Zusage zur „Ein-China-Politik“ bekräftigt, d.h. dass die USA nach wie vor die Regierung in Peking als ausschließliche Vertretung Chinas, einschließlich Taiwan, anerkennt.

Allerdings habe Biden Xi ermahnt, den „Status quo Taiwans“ nicht einseitig zu ändern und den „Frieden und die Stabilität in der Taiwanstraße“ nicht zu gefährden. Dies bezog der Tagesspiegel-Autor auf „Drohungen der kommunistischen Führung“, Taiwan durch „Eroberung“ wiedervereinigen zu wollen. [1] Im Kontrast dazu ist die eigentliche Ursache für die Zuspitzung in der Region und für jegliche Änderung an Taiwans Status quo, dass der Westen Taiwan als unabhängigen Akteur in seinen geopolitischen Machtpoker, insbesondere in die Indo-Pazifik Strategie, einbinden will.

Präsident Xi hat die Brisanz dieser Entwicklung längst erkannt und warnt deswegen zurecht vor dem „Spiel mit dem Feuer“. Es existieren keine „Eroberungspläne“. Solches Vokabular stammt aus dem altbekannten Propagandafundus anglo-amerikanischer Rüstungsinteressen. Was jedoch existiert, sind klägliche Eindämmungsversuche des Westens gegenüber einem wirtschaftlich, diplomatisch und intellektuell immer erfolgreicheren China. Diese neokolonialistische Geopolitik des Westens ist es, die die Kriegsgefahr um Taiwan in Wirklichkeit anheizt.

US-Kriegsschiffe provozieren

In den meisten Berichten wird unterschlagen, dass die Entsendung von US-Schlachtschiffen zur Durchfahrt durch die etwa 200 km breite Meeresenge zwischen der Insel Taiwan und dem chinesischen Festland zurecht als alarmierende Provokation empfunden wird.

https://mil.ifeng.com/c/7muEVyd2Cwa

Würden chinesische Zerstörer in gleicher Distanz zum amerikanischen Festland Übungen zur „Freiheit der Schiffsnavigation“ durchführen, wie es im Jargon der US-Behörden und der NATO heißt, würde die Aufregung auf westlicher Seite sicherlich hysterische Ausmaße annehmen. Da hilft es auch nichts, wenn die amerikanische und britische Seite solche Manöver stets als „routinemäßig“ und „im Einklang mit internationalem Recht“ bezeichnet.

Im Jahr 2016 fuhren unter der Präsidentschaft Obamas bereits einmal im Monat, also insgesamt 12-mal, US-Kriegsschiffe durch die Taiwanstraße. Im Jahr 2020 unter Trump waren es sogar 13-mal. Präsident Biden setzt diesen Trend monatlicher provokativer Durchfahrten ununterbrochen fort.[2] Auch Großbritannien schickt seit neuestem Kriegsschiffe durch die Taiwanstraße, da die Briten angeblich ein „dauerhaftes Sicherheitsinteresse im Indo-Pazifik und viele wichtige bilaterale Verteidigungsbeziehungen“ hätten.[3]

Waffen für Taiwan

Darüber hinaus behaupten viele westliche Medien, die USA würden sich ja an das „Taiwan-Gesetz“ von 1979 halten.

Das Wort Gesetz suggeriert Legitimität, verschleiert aber die Tatsache, dass es sich bei dem Taiwan Relations Act – so der Originaltitel – eben nicht um ein anerkanntes Abkommen handelt, sondern um eine einseitig vom amerikanischen Kongress verabschiedete Akte, die Waffenlieferungen an Taiwan erlauben und rechtfertigen soll. Dieses „Gesetz“ ist weder von China noch von der internationalen Gemeinschaft je anerkannt worden.

http://sj.macaumonthly.net/aomen/gtai/2020-07-13/326062.html

Bislang kam es zum Verkauf von F-16 Kampfjets, modernen Raketensystemen und Schlachtpanzern an Taiwan. Besondere Hitzköpfe wie Kenneth Wang vom Institute for Taiwanese Studies in Kalifornien fordern sogar offen die Stationierung amerikanischer Luftstreitkräfte und Raketen auf der Insel, und damit den de facto Beginn eines Unabhängigkeitskrieges.[4] Wenn der US-Sender CNN beschwichtigend berichtet, Biden habe Taiwan nicht zur Unabhängigkeit ermutigt, sondern er unterstütze lediglich, dass sich Taiwan mit Bezug auf den Taiwan Relations Act verteidigen könne, verwischt er vorsätzlich den engen Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten.[5] Waffenlieferungen sind eben die gefährlichste und provokativste Art von Solidaritätszusagen, mit denen die USA und ihre Partner der Unabhängigkeitsfraktion in Taiwan aktiv in die Hände spielen.

Kontext Indo-Pazifik-Strategie

Noch deutlicher wird das Täuschungsmanöver der Medienberichterstattung über die Taiwan-Frage, wenn man sich die dazu relevanten Passagen der amerikanischen Indo-Pazifik-Strategie ansieht.

Howard Wang von der Universität Boston hat dies getan und darüber einen sehr wichtigen Bericht veröffentlicht.[6] Wang weist darauf hin, dass die USA durch die Ausführung dieser Strategie einseitig mit der klassischen Sicherheits- und Bündnispolitik in Asien gebrochen haben. Zunächst zitiert Wang aus einer Rede des 2019 amtierenden US-Verteidigungsministers Patrick Shanahan. Darin sprach Shanahan von „Demokratien im Indo-Pazifik“ und zählte Singapur, Taiwan, Neuseeland und die Mongolei auf. Wang meint dazu: „Diese Bezugnahme auf Taiwan als ein mit Singapur, Neuseeland und der Mongolei vergleichbares Land ist ein ganz zentrales Abweichen davon, wie die Vereinigten Staaten im diplomatischen Sprachgebrauch traditionell auf Taiwan Bezug genommen haben […].“ Sprich: die USA haben Taiwan einfach für einen eigenständigen Staat erklärt, schließen ihn in ein Sicherheitsbündnis ein, liefern Waffen und entsenden Militärberater, was einen klaren Bruch bestehender Übereinkommen mit China darstellt.

Bei den Medien herrscht nicht nur Stillschweigen darüber, sondern man macht sich zum Sprachrohr geostrategischer Hardliner, die China jedes Mal aggressives Verhalten vorwerfen, wenn es diesem Treiben nicht blind und tatenlos zusieht, sondern auf die tatsächliche Gefahr dieser Entwicklung hinweist und nachvollziehbare Gegenmaßnahmen ergreift.

Autor Wang schreibt außerdem: „Die erfolgreiche Umsetzung der zweiten und dritten Säule des Berichts [über den sogenannten Freien und Offenen Indo-Pazifik – FOIP] steht für verstärkte Verbindungen zu Taiwan als amerikanischem Partner und eine engere Sicherheitskooperation zwischen Taiwan und den regionalen Verbündeten der USA, die ein zusammenhängendes Sicherheitsnetzwerk bilden, das Bedrohungen und Hindernisse für die FOIP-Vision ausgleicht.“ Für US-Verteidigungsminister Shanahan seien China und seine Kommunistische Partei die hauptsächlichen Hindernisse zum Erreichen dieser „internationalen regelbasierten Ordnung“, in welcher die USA und seine Partner nach wie vor unangefochten das Sagen haben.

Fake „Luftverteidigungszone“

Mit ebenso aufgeregtem Tonfall sprechen westliche Massenmedien irreführend davon, dass chinesische Streitkräfte „in die Luftverteidigungszone Taiwans eingedrungen“ seien, so heißt es beispielsweise in einem Bericht der Tagesschau[7]. Die Redaktion fügte erst nachträglich eine entscheidende Erläuterung hinzu, nämlich dass die sogenannte „taiwanische Luftverteidigungszone“ nicht nur den eigentlichen Luftraum Taiwans, „sondern auch Teile der chinesischen Luftüberwachungsgebiete und sogar Teile von Festland-China“ umfasst.

Die Luftverteidigungszone hat also nichts mit dem geografischen Territorium Taiwans zu tun. Es handelt sich um eine Aerial Defense Identification Zone (ADIZ), in welcher sich Flugzeuge lediglich ausweisen sollen. Von einem Eindringen in souveränen Luftraum kann hierbei nicht die Rede sein. Ein solch falscher Eindruck wird aber gerne sowohl von offiziellen Stellen in Taipei als auch von westlichen Medien erzeugt.

ADIZ der Insel Taiwan, SüdKorea und Japan

Taiwans ADIZ erstreckt sich nicht nur über den größten Teil der Straße von Taiwan, sondern auch über einen Teil der chinesischen Provinzen Fujian, Zhejiang und Jiangxi sowie einen Teil des Ostchinesischen Meeres. Sie beruht keineswegs auf irgendeinem internationalen Regelsystem, so wie es die USA und ihre Alliierten gerne für sich reklamieren.

Karten der Taiwan-ADIZ enthalten in der Regel auch die Mittellinie der Straße von Taiwan als Referenz. Diese „wurde 1955 von US-Luftwaffengeneral Benjamin O. Davis Jr. festgelegt, der eine Linie in der Mitte der Meerenge zeichnete,“ schreibt Wikipedia. Und Joseph Micallef von der Plattform military.com erläutert: „Die Davis-Linie, die Mittellinie, die die chinesischen und taiwanesischen Hoheitsgewässer und den Luftraum in der Straße von Taiwan trennt, wurde 1954 im Vertrag zur gegenseitigen Verteidigung zwischen den USA und Taiwan festgelegt. Sie ist nach Brigadegeneral Benjamin O. Davis Sr. benannt, dem ersten Leiter der Air Task Force 13 der US-Luftwaffe in Taiwan.“[8]  

Die allerorten in Medien und Pressemitteilungen zirkulierenden Begriffe wie „Verletzung der Souveränität“ und „Invasion des Luftraums“ haben also mit der Realität vor Ort nichts zu tun. Sie sollen lediglich die Schuld für die Spannungen einseitig Peking in die Schuhe schieben und Stimmung beim westlichen Publikum erzeugen.

Das Shanghaier Communiqué

„Die Taiwan-Frage ist die wichtigste Angelegenheit, die der Normalisierung der Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten im Wege steht.“ Dieser Satz entstammt keinem aktuellen Medienbericht. Vielmehr findet er sich in einem Protokoll über die außenpolitischen Positionen des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon und Chinas Premierminister Zhou Enlai vom 27. Februar 1972.

Dieses als „Shanghaier Communiqué“[9] in die Geschichte eingegangene Dokument entstand als Ergebnis „ausführlicher, ernsthafter und freimütiger Diskussionen“ zwischen Nixon und Zhou, und liefert bis heute die Prinzipien für rationale und verantwortungsvolle Beziehungen zwischen den beiden Großmächten.

http://www.js7tv.cn/news/201802_134678.html

Es bildet das erste von drei diplomatischen Dokumenten, die heute unter der Bezeichnung „Die drei Communiqués“ firmieren. 

Xi Jinping betonte am 16. November in seinem dreieinhalb Stunden andauernden Austausch mit Biden laut Gesprächsprotokoll: „Das Ein-China-Prinzip und die drei Gemeinsamen Kommuniqués zwischen China und den USA bilden die politische Grundlage der Beziehungen zwischen China und den USA. Alle früheren US-Regierungen haben sich in dieser Frage eindeutig festgelegt.

Der wahre Status quo der Taiwan-Frage und der Kern des einen Chinas ist folgender: Es gibt nur ein China in der Welt, und Taiwan ist Teil Chinas, und die Regierung der Volksrepublik China ist die einzige rechtmäßige Regierung, die China vertritt.“ [10]

Im Shanghaier Communiqué verpflichten sich die USA, das Recht Chinas und anderer Staaten Asiens auf Selbstbestimmung zu beachten. Taiwan sei Chinas innere Angelegenheit, heißt es darin, und kein Land habe das Recht, sich einzumischen. Wörtlich: „Die Vereinigten Staaten erkennen an, dass alle Chinesen auf beiden Seiten der Straße von Taiwan die Auffassung vertreten, dass es nur ein China gibt und dass Taiwan ein Teil von China ist.

Die Regierung der Vereinigten Staaten stellt diese Position nicht in Frage.“ Die Position Chinas ist also auch aktuell völlig eindeutig und historisch konsistent. Biden scheint sich über die Eindeutigkeit seiner Aussagen weniger Gedanken zu machen. Dieser soll erklärt haben, Taiwan mache „seinen eigenen Entscheidungen“ und sei „unabhängig“, [11] obwohl er laut Erklärung von hohen Beamten des Weißen Hauses gleichzeitig die Ein-China-Politik nicht in Frage gestellt haben soll.[12]

Ist das nur temporäre Verwirrung oder ein bewusstes Verwirrspiel? Die Ambiguitäten, Provokationen und Zündeleien der USA und vieler andere Mächte, die sich der Indo-Pazifik-Strategie verschrieben haben, stellen jedenfalls eine riskante Konfrontationshaltung zum Erhalt ihrer Hegemonie dar. Das westliche Medienpublikum sollte den Kontext und die Dimensionen dieser politischen Manöver begreifen lernen, um bestenfalls sofortige Kurskorrekturen zu verlangen, bevor ein unkontrollierbarer Brand ausbricht.


[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/spiel-mit-dem-feuer-um-zukunft-taiwans-biden-und-xi-ermahnen-sich-gegenseitig/27803228.html

[2] https://www.msn.com/en-us/news/world/biden-keeps-up-monthly-u-s-navy-warship-patrols-in-taiwan-strait-amid-china-protests/ar-AAMGXw5

[3] https://www.theguardian.com/uk-news/2021/sep/28/uk-sends-warship-through-taiwan-straight-for-first-time-in-more-than-a-decade

[4] https://www.taipeitimes.com/News/editorials/archives/2021/07/31/2003761756

[5] https://edition.cnn.com/2021/11/17/china/xi-biden-summit-beijing-victory-mic-intl-hnk/index.html

[6] https://thediplomat.com/2019/06/taiwans-security-role-in-the-u-s-indo-pacific-strategy/

[7] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/taiwan-china-luftwaffe-101.html

[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Air_defense_identification_zone#cite_ref-14

[9] http://www.taiwandocuments.org/communique01.htm

[10] https://www.mfa.gov.cn/mfa_eng/zxxx_662805/202111/t20211116_10448843.html

[11] https://www.straitstimes.com/world/united-states/biden-sparks-fresh-confusion-over-us-policy-towards-taiwan

[12] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2021/11/15/background-press-call-by-senior-administration-officials-on-president-bidens-virtual-meeting-with-president-xi-of-the-peoples-republic-of-china/