Das Schicksal der muslimischen Minderheit wühlt den Westen auf. Dass uigurische Terroristen seit dreißig Jahren Peking herausfordern, wird ausgeblendet.

Kunming, Provinz Yunnan, Südchina: Am 1. März 2014, einem ganz normalen Samstagabend, erschienen sieben Uiguren und eine schwangere Frau, alle schwarz gekleidet, im Bahnhof von Kunming. Sie zückten lange Messer und begannen, auf Männer, Frauen und Kinder einzustechen. Binnen zehn Minuten waren 31 Personen tot und 130 verwundet.

Zehn Minuten später war ein chinesisches Sonderkommando vor Ort: Vier der uigurischen Terroristen wurden erschossen, eine verwundete Frau wurde ins Krankenhaus gebracht, drei weitere Uiguren wurden verhaftet, vor Gericht gestellt und hingerichtet. Die Schwangere wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Massaker von Kunming war Chinas 9/11.

Wie in Amerika zeigte sich auch hier im Nachhinein, dass dieser Anschlag der Höhepunkt eines fundamentalistischen Trends war, der seit den frühen 1990ern zu beobachten war. In Xinjian, der Heimat der Uiguren, hatten lange Bärte und Burka-Trägerinnen das Aufkommen eines radikalen Islam signalisiert.

Mao und der Warlord

Beim ersten Bombenanschlag im Februar 1992 in Ürümqi kamen drei Menschen ums Leben. Fünf Jahre später, nach der Hinrichtung von dreißig mutmaßlichen Separatisten, waren, wiederum in Ürümqi, bei einem Überfall auf Busse drei Kinder getötet worden. Es folgten Unruhen, Dutzende kleinerer terroristischer Zwischenfälle und immer wieder Anschläge.

Inspiriert wurden die Aktivitäten vom Al-Qaida-Anschlag am 11. September 2001 und von Anschlägen der Taliban in Pakistan und Afghanistan, in deren Lagern auch Uiguren ausgebildet wurden. Das harte Vorgehen der chinesischen Behörden gegen uigurische Extremisten entfremdete ihnen überdies eine Bevölkerung, die der Zuwanderung von Han-Chinesen, der wirtschaftlichen Entwicklung und der Einschränkung der eigenen Kultur feindselig gegenüberstand. Vor dem Olympischen Spielen 2008 in Peking kam es in Kaschgar zu einem Anschlag, bei dem zwei Uiguren sechzehn Menschen töteten.

2010 lenkte ein Selbstmordattentäter in der Stadt Aksu, unweit der Grenze zu Kirgistan, ein Dreiradfahrzeug in eine Gruppe von Polizisten. Zehn Personen starben. Im Jahr darauf überfiel eine Gruppe junger Uiguren eine Polizeistation

Vor den Olympischen Spielen 2008 in Peking töteten zwei Uiguren sechzehn Menschen in Kaschgar.

in derStadt Hotan aus Protest gegen das Burkaverbot und nahm Geiseln. Im selben Jahr fanden in Kaschgar weitere Anschläge statt. Am 30. April 2014 ereignete sich in Ürümqi während des Besuchs von Staatspräsident Xi Jinping in Xinjiang ein Anschlag, bei dem drei Menschen getötet und 79 verletzt wurden.

Bei den Unruhen ging es nicht nur um muslimischen Radikalismus, sondern auch um kulturelle Identität. Uigurische Wissenschaftler im Exil verweisen darauf, dass ihr Volk seit 6000 Jahren in Xinjiang lebt. China dagegen erklärt, die Uiguren seien erst nach dem Untergang des Uiguren-Khanats im 9. Jahrhundert und der Vertreibung der Han-Chinesen in die Region gekommen. Fest steht, dass die Uiguren im ausgehenden 10. Jahrhundert den Islam annahmen.

Massaker von Kunming

Xinjiang, im äußersten Nordwesten der Volksrepublik China gelegen, ist ein Gebiet von der Größe des Irans. Im Nordosten grenzt es an die Mongolei und die Wüste Gobi, im Norden an Kasachstan. An der Westgrenze verläuft das pakistanische Karakorum-Gebirge mit achtzehn Bergen über 7500 Meter, darunter der K2, mit 8611 Metern der zweithöchste Berg der Welt. Im Süden, abgetrennt durch die Kunlun-Gebirgskette, liegt Tibet. Eine zentrale Rolle für Xinjiang spielt das Tarimbecken, die spirtuelle Heimat der Uiguren, die vor allem die Taklamakan-Wüste im Süden und Osten umfasst, ein Gebiet von der sechsfachen Größe der Schweiz. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts überquerte Marco Polo den Karakorum in Richtung Kaschgar, von wo er auf Kamelen die Taklamakan durchquerte. Die Seidenstraße war geboren.

Erst im frühen 19. Jahrhundert konnte die Qing-Dynastie das ferne Xinjiang vollständig unter ihre Herrschaft bringen. Noch heute braucht man für die 4000 Kilometer von Peking nach Kaschgar achtunddreißig Stunden mit dem Auto. Nach der Absetzung der Qing-Dynastie durch Sun Yat-sen 1911 wurde Xinjiang ein halbautonomes Khanat unter Maqsud Schah, der ein lockeres Bündnis mit der neuen Republik China schloss.

Nach seinem Tod 1930 gab es eine kurze Periode der Unabhängigkeit während der Ersten Ostturkestanischen Republik, errichtet von einer separatistischen Bewegung, die sich auf die turk-altaischen Ursprünge der Uiguren berief. Diese Republik konnte sich nicht lange halten – außer in den Erinnerungen der heutigen Separatisten, der Nationalen Erweckungsbewegung Ostturkestan, deren Hauptquartier sich seit 2017 in Washington befindet.

Muslimische Nationen wenden sich ab

Nach dem Ende der Ersten Republik Ost-Turkestan geriet Xinjiang unter die Herrschaft des Warlords Sheng Shicai, der anfänglich von den Sowjets unterstützt wurde, bis er sich auf die Seite der Kuomintang von Tschiang Kai Schek schlug. 1943 ließ er Mao Zemin, den Bruder von Mao Zedon, hinrichten, der als Emissär nach Xinjiang entsandt worden war. Sheng selbst wurde 1944 von den Uiguren mit sowjetischer Hilfe gestürzt, es folgte die Gründung der Zweiten Ostturkestanischen Republik, die 1949 nach dem Einmarsch von Maos Volksbefreiungsarmee in die Volksrepublik China eingegliedert wurde. Seit 1955 trägt die Provinz den Namen Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang.

Bis zum „Spektakel“ von Kunming hatte sich das Uiguren-Problem auf Xinjiang beschränkt. Kunming hat zwar eine beträchtliche uigurische Minderheit, ist aber keine uigurische Stadt und überdies 2000 km von Kaschgar entfernt. Mit dem Angriff auf eine Han-Stadt änderte sich alles. Dschidahisten hatten im chinesischen Kernland zugeschlagen. Nach dem Massaker von Kunming kam es in Xinjiang zu einer neuen Welle von Terroranschlägen. Xi Jinping besuchte die Provinz und ordnete brutale Strafmaßnahmen an.

Das Ergebnis sind die Umerziehungslager, in denen Berichten zufolge mehr als eine Million Uiguren festgehalten werden. In den globalen Medien wird inzwischen regelmäßig über Folter, Zerstörung von Moscheen, den Abriss von Wohnhäusern und die Beseitigung von kulturellen Einrichtungen berichtet. Allerdings wird in diesen Reportagen meist der Kontext ausgeblendet. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist kaum über das Ausmaß der dschihadistischen Anschläge berichtet worden. Xi Jinping will das Dschihadistenproblem durch rigorose Unterdrückung im Innern lösen – ein Weg, der Europa und Amerika nicht zur Verfügung steht, auch wenn Präsident Macron entschlossen scheint, eine vorsichtigere Form von Kulturkrieg gegen den Islam zu führen.

Anders als der Westen versucht China nicht, mit den Dschihadisten im eigenen Land fertigzuwerden, indem man Truppen in den Nahen Osten entsendet. Aus chinesischer Sicht ist die Unterdrückung des uigurischen Widerstands

Die Saat des antiwestlichen islamischen Terrorismus ist gesät – Im Westen wie im Nahen Osten.

viel weniger kostspielig als die militärischen Abenteuer des Westens im Irak, in Syrien und Afghanistan. Obwohl der Westen im Kampf gegen den globalen Dschihad kaum Erfolge verzeichnen kann, begegnet man China mit großer moralischer Gewissheit.

Auf der 41. Sitzung des UNO-Menschenrechtsrats im Juni 2019 richteten zweiundzwanzig Staaten einen Protestbrief an China, in dem auf „glaubwürdige Berichte über willkürliche Inhaftierung [von Uiguren] in Straflagern“ verwiesen wurde. Waren unter diesen 22 protestierenden Staaten auch muslimische Länder, die sich für ihre Glaubensbrüder einsetzten? Nein. Kein einziges Mitglied der Organisation für Islamische Zusammenarbeit unterzeichnete das Protestschreiben. Mit Ausnahme von Japan waren es weiße, christliche Staaten.

Nicht nur versagten muslimische Nationen den Uiguren ihre Unterstützung, einundzwanzig muslimische Länder beklagten in einem Brief die Politisierung der Menschenrechtsfrage durch den „Brief der 22“. Insgesamt fünfzig Nationen lobten in diesem „Gegenbrief“ Chinas bemerkenswerte Anstrengungen, „die Menschenrechte zu schützen und zu fördern“. Zu den Unterzeichnern gehörten der Iran, Saudi-Arabien, der Irak, Ägypten und die Türkei – die man kaum als Gesinnungsfreunde bezeichnen kann. Muslimische Staaten haben nicht nur das harte Vorgehen der Chinesen gebilligt, sie schicken überdies uigurische Asylbewerber zurück nach China.

Während der Westen gern seine moralische Überlegenheit ins Feld führt, sind die meisten Nationen der Ansicht, dass man in Sachen Geopolitik andere Länder nicht moralisch bewerten sollte. Im Gegensatz zur angeblich „moralischen“ Strategie des Westens, den Nahen Osten durch militärische Intervention zu demokratisieren, scheint Xi Jinpings „unmoralisches“ Vorgehen gegen die Dschihadisten zu funktionieren.

Derweil ist der Westen mit den Folgen seiner militärischen Interventionen konfrontiert. 2016 nahm China nur 26 syrische Asylbewerber auf, nur neun Flüchtline wurden registriert. China betrachtet syrische Flüchtlinge nicht als sein Problem. Der ehemalige chinesische Botschafter in Ägypten und Saudi-Arabien schrieb in der Pekinger Volkstageszeitung, dass die Ursache der Flüchtlingskrise in Syrien in der Demokratisierungspolitik des Westens zu suchen sei. Es fällt schwer, dieser Analyse zu widersprechen.

Freunde und Anerkennung

In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben außerordentlich kostspielige und letztlich fragwürdige militärische Abenteuer im Nahen Osten die soziale Stabilität und wirtschaftliche Dynamik im Westen geschwächt. Und die Saat eines antiwestlichen islamischen Terrorismus ist gesät – im Westen wie im Nahen Osten. Im Irak, in Syrien und Afghanistan und weiten Teilen der islamischen Welt hat der Westen an Einfluss und Beliebtheit verloren. China dagegen hat – trotz seines Vorgehens gegen die Uiguren – Freunde und Anerkennung unter muslimischen Ländern gefunden. China ignoriert die moralischen Vorhaltungen des Westens einfach. Und es ist obendrein China, das von dem fragilen Frieden im Nahen Osten wirtschaftlich profitiert, während der Westen die Rechnung bezahlen muss.

Francis Pike ist ein britischer Historiker und Autor von „Empires at War. A Short History of Modern Asia Since World War II“. Aus dem Englischen von Matthias Fienbork.

(Quelle: Weltwoche Nr. 17.21)