Jo Luo ist ein brillanter 27-jähriger Ingenieur, der im Land von Molière Französisch studiert hat. Als Liebhaber französischer Literatur zögert der gebürtige Pekinger nicht zu sagen, dass er diese Kultur zweifellos mehr mag als mancher junge Franzose. Was, wenn unsere Schulen und Universitäten unserer glorreichen Vergangenheit und ihren talentierten Philosophen und Schriftstellern nicht mehr gerecht werden?

Live-Interview mit unserem Sonderkorrespondenten in China

LHCH: Was war Ihre erste Begegnung mit der Welt der französischsprachigen Kultur?

Jo Luo: Als Kind habe ich die chinesische Übersetzung des Romans „Les Misérables“ von Victor Hugo gelesen. Nach dieser Entdeckung, die eine wahre Leidenschaft auslöste, erforschte ich die großen Werke der französischen Literatur.

LHCH: Warum haben Sie sich eines Tages entschlossen, nach Frankreich zu gehen?

Jo Luo: Ich wollte diese Kultur besser kennenlernen. Diese erste Annäherung war nicht beruflich motiviert. China blieb das ideale Land für meine Karrierepläne. Andererseits hat mich das Diplom einer französischen Universität natürlich interessiert.

LHCH: Wie verlief diese erste Reise nach Europa?

Jo Luo: Das Projekt war eine absolut persönliche Initiative. Ich habe kein Stipendium erhalten oder an einem akademischen Austausch teilgenommen. Ich hatte in der Schule bereits drei Jahre Französisch gelernt. Danach hatte ich ein Jahr bei der Alliance Française in Peking weitergelernt. Und dann habe ich mich an der Universität Lyon III Jean Moulin in Frankreich eingeschrieben.

LHCH: Hatten Sie eine etwas idealisierte Vision von Frankreich („Postkarte“), eine Vision, die Sie zu Enttäuschungen geführt hätte, wenn Sie die Realität dort entdeckt hätten?

Jo Luo: In China hatte ich schon viel mit Klassenkameraden zu tun, die von einer langen Reise nach Frankreich zurückgekehrt waren. Ihre Erfahrungen waren für mich sehr aufschlussreich. Andererseits stellte ich nach meiner Ankunft in Lyon fest, dass die jungen Franzosen, anders als in verschiedenen Berichten über Frankreich beschrieben, nicht sehr an ihrer großen Literatur interessiert waren. Letztlich erkannte ich diese Gegend nicht wieder!

LHCH: Und auf der Ebene des Studiensystems? Worin haben Sie den Unterschied zwischen Frankreich und China gespürt?

Jo Luo: In Frankreich wie in Belgien empfand ich die Qualität des Wissens in allgemeinen Fächern wie zum Beispiel Mathematik als weniger anspruchsvoll. Und vor allem in Bereichen wie der internationalen Politik. Zusammenfassend würde ich sagen, in allgemeineren Angelegenheiten.

LHCH: Warum sind Sie dann nach Belgien gezogen?

Jo Luo: Meine französische Freundin aus Studienzeiten hatte sich in Belgien beworben, um dort weiter zu studieren. Also bin ich ihr gefolgt. Ich habe zwei Jahre an der Universität Louvain-la-Neuve studiert. Dann habe ich in einer Outsourcing-Firma gearbeitet, die mit einem berühmten chinesischen High-Tech-Unternehmen zusammenarbeitete. Diese Arbeit war interessant, weil sie kulturell gemischt war: sechs Monate in Belgien, sechs Monate in China!

LHCH: Was könnte Ihrer Erfahrung nach Europa nach China bringen? Ich meine damit natürlich die kulturelle oder philosophische Ebene.

Jo Luo: Kreativität, Freiheit des Denkens, Phantasie …

LHCH: Umgekehrt: Was kann China nach Europa bringen?

Jo Luo: Den Sinn für das Kollektiv, den Konfuzianismus sowie einen Sinn für Ehre und Arbeit.

LHCH: Es gab und gibt hier in Europa die traurige Covid-Episode. Aber ist das der einzige Grund für Ihre Rückkehr nach China? Sie haben sich auch dafür entschieden, im Norden Ihres Landes zu arbeiten.

Jo Luo: Meine chinesische Verlobte hat ihr Studium hier in China beendet. Ich bin 27 Jahre alt. Wir wollen also eine Familie gründen. Der europäische Gesundheitskontext spielt zwar eine Rolle, aber das ist nicht der einzige Grund. In China ist der Arbeitsmarkt riesig und ermöglicht, wenn man bereit ist umzuziehen, eine größere Bandbreite an Karrieremöglichkeiten. Wir haben sogar beide einen Job in derselben Firma gefunden! Das ist für unseren Tagesablauf ein großer Segen.

LHCH: Hier in Westeuropa haben unsere Medien und auch unsere Politik in den letzten Jahren einen schweren Stand gegenüber der chinesischen Regierung gehabt. Glauben Sie, dass andere Länder in Europa heute offener gegenüber China sind?

Jo Luo: Ja, ein anderes Europa, oder besser gesagt eine andere europäische Mentalität entsteht, weiter östlich, vor allem in Serbien, das gerne bei Covid-Tests und Impfstoffen mit uns zusammenarbeitet. Das gleiche gilt in Mitteleuropa für Ungarn. Ich glaube, in Westeuropa können sich die Franzosen, die Deutschen, die Niederländer und manchmal auch die Belgier nicht mehr vorstellen, mit den Chinesen auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Dieses Überlegenheitsgefühl ist verletzend, obwohl es eher den Regierungen als der Bevölkerung an sich eigen ist.

LHCH: Danke für diese Offenheit, die einen echten Zukunftsdialog ermöglicht. Aber im Moment fühlen Sie sich in China ein bisschen zwischen zwei Welten, verglichen mit Ihren Erfahrungen in Europa?

Jo Luo: Ich habe nicht lange genug in Europa gelebt und gearbeitet, um mich wesentlich von meinen chinesischen Landsleuten zu unterscheiden. Aber es ist wahr, dass diese Reise meinen Geist geöffnet und meine Mentalität gegenüber Chinesen, die ihr Land nie verlassen haben, ein wenig verändert hat. Aber um mich herum, in Peking, gibt es diese Art von Chinesen eigentlich nicht. In kleinen, abgelegenen Städten ist das natürlich anders.

LHCH: Wie hat sich in Ihrer Mentalität vielleicht doch etwas geändert?

Jo Luo: Eine gewisse humorvolle Distanz, das Verständnis für französischen Witz und Ironie.

(Quelle: RFI, Travel China)