In der Welt des Infrastrukturbaus sind anderthalb Milliarden Dollar keine besonders große Summe. Im Falle einer bestimmten Eisenbahnlinie macht es jedoch einen großen strategischen Unterschied. Entlang der Südwestküste des Kaspischen Meeres teilen sich Iran und Aserbaidschan eine Grenze. Ein etwa 164 Kilometer langes Teilstück zwischen dem iranischen Rasht und dem aserbaidschanischen Astara muss noch miteinander verbunden werden; dann können Züge von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku lückenlos zur iranischen Hauptstadt Teheran fahren. Bisher müssen Güterzüge auf dem Abschnitt Rasht-Astara ihre Fracht auf Lastwagen umladen.

Warum ist dieses kurze Stück Bahnstrecke so wichtig? Es ist eines der Schlüsselprojekte für die strategische Neuausrichtung der euro-asiatischen Güterströme. Seit mehr als zwanzig Jahren wird diskutiert und auf dem Papier verabredet, einen Güterkorridor zwischen dem russischen Nordwesten und den Häfen an der westindischen Küste zu schaffen. Passiert ist relativ wenig, da Russland weiterhin wichtige Güter aus dem Westen importieren konnte. Mit der Verschärfung der Sanktionen des kollektiven Westens gegen Russland – und den Iran – hat sich dies dramatisch geändert und eine neue Welle von Aktionen ausgelöst.

Der indische Premierminister Narendra Modi (R) und der russische Präsident Wladimir Putin posieren für ein Foto vor einem Treffen in Neu-Delhi, Indien, am 06. Dezember 2021. Putin ist in Indien eingetroffen, um am 21. jährlichen Gipfeltreffen Indien-Russland 2021 teilzunehmen. EPA/HARISH TYAGI

Bereits Ende April 2022 besuchte der iranische Minister für Transport und Stadtentwicklung Moskau. In einem Memorandum of Understanding wurde die Notwendigkeit der Fertigstellung des Güterverkehrskorridors einschließlich der Strecke Rasht-Astara unterstrichen. Im Mai 2023 unterzeichneten Moskau und Teheran ein Abkommen über den Bau der Rasht-Astara-Strecke. Diese wird den insgesamt 7.200 Kilometer langen internationalen Nord-Süd-Verkehrskorridor vervollständigen. Er erstreckt sich von St. Petersburg im Nordwesten Russlands bis zu den südlichen Häfen im Iran. Von dort können die Güter auf Frachtschiffe verladen werden und enden schließlich im indischen Hafen Mumbai.

Dieser Korridor wird zunehmend die langen und teuren Seewege über die Ost- und Nordsee, das Mittelmeer und den Suezkanal nach Indien ersetzen. Die Route umgeht Europa und ist nur halb so lang wie die Mittelmeer-Suezkanal-Route. Die Logistik-Website The Loadstar berichtete kürzlich, dass die russische Regierung der iranischen Regierung einen Kredit von umgerechnet 1,7 Milliarden Dollar für den Bau der strategisch wichtigen Rasht-Astara-Route gewährt hat. Damit ist der entscheidende Startschuss für das Projekt gefallen. Die Bauzeit soll etwa vier Jahre betragen.

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Laut dem Analysten Vali Kaleji scheiterte der Bau und die Fertigstellung der Rasht-Astara-Strecke bisher eben an der fehlenden Finanzierung. Aus Angst vor extraterritorialen Sanktionen durch die USA und der EU wagte man es nicht, das Projekt finanziell zu unterstützen. Frühere Vereinbarungen wurden daher nie umgesetzt, da die iranischen Banken das Geld nie erhalten hätten. Der zunehmende Druck scheint diese Bedenken nun beiseite geräumt zu haben, und die Finanzierung dürfte durch die Verwendung nationaler Währungen bzw. durch Verfahren, bei denen westliche Sanktionskontrollen nicht greifen, gesichert zu sein.

“Die Südroute ist nun in den Fokus russischer Politiker gerückt, die versuchen, die Infrastruktur für ihre Pläne einer endgültigen Abkehr vom Westen zu schaffen.” (Ivan Nechepurenko, The New York Times)

Diese Realität ist nun auch im Westen angekommen. Mitte März veröffentlichte die New York Times eine sehr umfassende Analyse zum Nord-Süd-Verkehrskorridor. Darin wird die Befürchtung geäußert, dass Russland und der Iran die Sanktionen des Westens aushebeln könnten. Jahrhundertelang sei der Handel mit Europa die Hauptsäule der russischen Wirtschaft gewesen. Der Konflikt in der Ukraine habe dem ein Ende gesetzt. Russland suche neue Märkte und finde sie in China, Indien und den Ländern am Persischen Golf. Dies käme einer endgültigen Abkehr vom Westen gleich.

Russland, so die New York Times, beziehe Maschinen aus Indien, Waffentechnologie aus dem Iran, Konsumgüter aus den Golfstaaten und der Türkei. Die russische Regierung plane zudem ein Eisenbahnprojekt, das den direkten Zugang zur Türkei wiederherstellen würde. Der russische Präsident Wladimir Putin wird mit den Worten zitiert, die Transportzeit von Gütern zwischen Mumbai und St. Petersburg werde sich von derzeit 30 bis 45 Tagen auf nur 10 Tage verkürzen. Russische Regierungsbeamte würden das Projekt als “revolutionären Durchbruch” bezeichnen.

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Was die New York Times auch erwähnt, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der Handel zwischen Russland und China ist im Jahr 2023 um 63 Prozent auf 240 Milliarden US-Dollar gestiegen. Russlands Handel mit Indien erreichte 65 Milliarden Dollar. Das entspricht einer Vervierfachung seit 2021. Der Handel mit China und Indien zusammen hat nun den Handel zwischen Russland und der Europäischen Union überholt, der vor Ausbruch des Krieges 282 Milliarden betrug. Sobald der Zugang zu den iranischen Häfen einfacher wird, werden russische Händler und Geschäftsleute leichten Zugang zu Zielen in Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Pakistan und weit darüber hinaus haben.

In deutschen Medien eine strategische Analyse des Nord-Süd-Korridors zu finden, ist wohl reines Wunschdenken. Zu sehr ist man der bornierten Vorstellung verhaftet, dass unsere Sanktionen die russische Regierung letztlich dazu zwingen müssen, vor den Toren Europas um neuen Zugang zu betteln. Dass Not erfinderisch macht und in einer komplexen multipolaren Welt immer wieder Kräfte für Alternativen freigesetzt werden, passt einfach nicht ins Weltbild, dem man sich tunnelblickartig verschrieben hat.

Quellen und Links:

https://www.nytimes.com/2024/03/13/world/europe/russia-trade-economy-ukraine.html

https://jamestown.org/program/will-russia-complete-irans-rasht-astara-railway/