In nur drei Wochen wurden 20 Prozent der Menschen in Israel gegen das Coronavirus geimpft. Warum klappt das bei uns nicht? Was haben EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn da bloß verbockt? Und wann endlich wird dieser „Impf-Fehlstart“, von dem etwa die BILD-Zeitung schreibt, in Europa und Deutschland korrigiert? Solche Fragen geistern in diesen Tagen durch Talkshows und große Boulevardmedien. Wir liefern die Antworten.
Nur zur Erinnerung: Es ist noch gar nicht so lange her, da fragten sich viele von uns, wie lange es wohl dauern würde, bis ein Corona-Impfstoff verfügbar wäre. Im Mai 2020 ging der Präsident des Paul-Ehrlich-Instituts, Klaus Cichutek, wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davon aus, „dass es etwa 15 bis 18 Monate dauern wird.“Thilo Kaltenbach, Gesundheitsexperte bei einer Strategieberatung, zeigte sich etwas optimistischer und erklärte in einem Gespräch mit der Deutschen Presseagentur: „Noch nie gab es eine konzertierte Aktion so vieler forschender Pharmafirmen.“
Diese Kooperationen führten dazu, dass bereits im Dezember der erste Corona-Impfstoff in Europa zugelassen werden konnte, Anfang Januar der zweite und voraussichtlich Ende Januar der dritte.
Coronaimpfstoffe und die Einkaufspolitik der EU
Doch die Freude darüber, dass in Rekordzeit gleich mehrere, aller Voraussicht nach hochwirksame Impfstoffe zur Verfügung standen, währte nur kurz. Denn sofort gab es Kritik an der Einkaufspolitik der Europäischen Union (EU) wie auch der Bundesregierung. Es meldete sich etwa der stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende Kevin Kühnert zu Wort, der in einem Interview erklärte: „Wenn ich die Nadel im Heuhaufen noch nicht finden kann, sie aber dringend brauche, dann kaufe ich doch erstmal zur Sicherheit den Heuhaufen, und zwar komplett.“ Klingt originell, hätte aber ganz gewiss zur Folge gehabt, dass sich manch einer oder eine fragt: „Ja, haben wir denn in Europa und in Deutschland Geld wie Heu?“ Haben wir nicht, leider – Bazooka hin, Wumms her. Und deshalb ist es durchaus nachvollziehbar, dass man eben nicht sofort alles wegkaufte, was man kriegen konnte. Und das nicht nur wegen des Geldes, sondern vor allem, weil Ursula von der Leyen schlichtweg das Richtige tut, wenn sie erklärt, die Kommission setze sich dafür ein, „dass alle, die einen Impfstoff benötigen, ihn auch erhalten – nicht nur bei uns. Denn solange nicht alle geschützt sind, sind auch wir nicht geschützt.“
Auf Kühnerts Kritik angesprochen meinte Gesundheitsminister Jens Spahn: „Ich wundere mich schon, dass Parteien, die die Internationale auf dem Parteitag singen und Europa beschwören, in so einer Situation am liebsten den nationalen Alleingang gehen wollen.“ Gerade dem Vorwurf eines Alleingangs muss sich Spahn allerdings nun selbst stellen, wie der SPIEGEL berichtete. Von „bilateralen Deals des Gesundheitsministeriums“ ist die Rede, die der Bundesregierung den Vorwurf einbrächten, „unsolidarisch gehandelt und womöglich auch EU-Recht gebrochen zu haben.“ So ganz geklärt scheint die Sache nicht.
Unabhängig davon betonte auch Dr. Hans-Georg Feldmeier, Vorsitzender des Bundesverbands der Pharmazeutischen Industrie, dass er ein gemeinsames Vorgehen der EU bei der Impfstoff-Beschaffung für richtig hält, denn: „Die Pandemie ist ein globales Problem, das nur gemeinsam zu lösen ist. Nationale Alleingänge à la ´America first` verbieten sich.“ Und weiter: „Wir sollten vor allem anerkennen, dass zum Zeitpunkt der Zulassungserteilung schon sehr viel Impfstoff vorhanden war. Das ist nicht selbstverständlich und bedeutet, dass die Hersteller bereits vor der Zulassungserteilung mit der Produktion begonnen haben.“
Unkonventionelle Wege beim Impfen
Richtig ist, dass Deutschland und viele andere EU-Länder beim Impfen nicht ganz so schnell aus den Startlöchern gekommen sind, wie es wünschenswert wäre. Am 12. Januar lag Deutschland mit einer Impfquote von 0,9 Prozent weltweit auf Platz 13 und damit nicht nur deutlich hinter Spitzenreiter Israel, sondern auch hinter Großbritannien, Dänemark oder Italien. Allerdings hat Israel nur knapp neun Millionen Einwohner sowie Einwohnerinnen und geht auch unkonventionelle Wege – so können die Senioren und Seniorinnen dort mit dem Auto zum Impf-Drive-In fahren, was in Deutschland eher schwer vorstellbar ist. Und: In Israel gibt es längst digitale Krankenakten, die nun dabei helfen, bei der Immunisierung schnell und unbürokratisch vorzugehen. Außerdem hat Israel seinen Impfstoff sehr frühzeitig und entschlossen bestellt (s. Tagesschau).
Das bedeutet aber nicht, dass die Europäer und Europäerinnen nun Angst haben müssten, sie kämen zu kurz. Im Gegenteil: Die Europäische Kommission hat Anfang Januar ihren Mitgliedsstaaten vorgeschlagen, weitere 200 Millionen Dosen des Corona-Impfstoffs von BioNTech/Pfizer zu bestellen, „mit der Option auf weitere 100 Millionen Dosen.“ Liefertermin ist ab dem zweiten Quartal 2021. Allein bei BioNTech/Pfizer hat sich die EU damit 600 Millionen Impfdosen gesichert. Rechnet man die anderen Herstellerfirmen hinzu, sind es sogar bis zu 2,3 Milliarden Impfdosen – „für Europa und seine Nachbarschaft“. Insgesamt könnten bis zu acht produzierende Unternehmen und ihre Partner Impfstoffe an die EU liefern – zuletzt hat die EU-Kommission Sondierungsgespräche mit dem Unternehmen „Valneva“ abgeschlossen, die es ermöglichen könnten, 60 Millionen weitere Impfstoff-Dosen zu erwerben.
Impfstoff-Produktion erhöhen – keine Selbstverständlichkeit
Bei all diesen erfreulichen Zahlen wird eher beiläufig zur Kenntnis genommen, dass BioNTech und Pfizer ihre Produktion sehr schnell und sehr spürbar erhöhen werden. Statt ursprünglich angestrebter 1,3 Milliarden Impfdosen sollen es jetzt zwei Milliarden werden – immer vorausgesetzt, die Lieferanten und weitere Vertragspartner liefern ebenso gute Arbeit ab wie die Herstellerfirmen. Produziert wird übrigens nicht nur in Mainz und Marburg, sondern auch im belgischen Städtchen Puurs und an den Pfizer-US-Standorten Kalamazoo, St. Louis und Andover. Am 10. Januar waren bereits knapp 33 Millionen Impfdosen ausgeliefert. Auch das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Denn Impfstoffe lassen sich nicht so einfach herstellen wie Laugenbrezeln, sondern in einem hochkomplexen Prozess, bei dem jedes Detail stimmen muss – von der Ausrüstung der Anlagen bis zu den Fläschchen für die Abfüllung. „Impfstoffherstellung braucht immer einen intensiven technischen Vorlauf“, erklärte kürzlich vfa-Präsident Han Steutel – insofern vollbringen die Impfstoffhersteller gerade eine historische Leistung in einer historischen Krise.
Und was den eingangs zitierten „Impf-Fehlstart“ (s. BILD) angeht – es gibt keinen. Was es aber gibt, sind Menschen in Alten- und Pflegeheimen, die in diesen Tagen von mobilen Impfteams besucht werden. Das geht naturgemäß langsamer als bei späteren Impfungen mit dem jüngeren Teil der Bevölkerung. „Der Start ist – allen berechtigten Hinweisen auf zu verbessernde Abläufe zum Trotz – ein Erfolg“, so Spahn.
Statt an den ersten Anlaufschwierigkeiten herumzumäkeln, wäre es sinnvoller, in den Talkshows und anderswo zu erklären, weshalb wir alle uns gegen COVID-19 impfen lassen sollten, sobald wir an der Reihe sind. Spahn spricht von der „größten Impfkampagne“ unserer Geschichte – von ihrem Erfolg hängt es ab, ob und wann wir die größte globale Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges hinter uns lassen werden. Denn auch das könnten heftige Nebenwirkungen der Corona-Impfstoffe sein: Die Hoffnung, dass die Welt diese Pandemie bald in den Griff bekommt. Und die Perspektive, dass wir noch in diesem Jahr zu einem normalen oder halbwegs normalen Leben zurückfinden können.
(Quelle: www.pharma-fakten.de / RFI)